Anzeiger 6/2020 – Akkordarbeiter am Leben anderer

Walter Schübler gilt als bedeutendster Biograf Österreichs. Sein Credo, über das er hier spricht: Alles, was ich als Biograf nicht belegen kann, habe ich als Biograf auch nicht zu schreiben.

Interview: Erich Klein

Der 1963 in Lindach in Oberösterreich geborene und in Wien lebende Literaturwissenschaftler und Autor Walter Schübler arbeitete erst als Akkordarbeiter in einer Fabrik und nach einem Übersetzerstudium für Französisch als Lektor und Kritiker für Zeitungen wie den Falter und die Presse. 2014 erhielt er den „Preis der Stadt Wien für Publizistik“. 2001 erschien sein Buch über den Dramatiker und Schauspieler Johann Nepomuk Nestroy, danach verfasste er drei weitere Biografien, etwa über das vermeintliche Vorbild der Mephisto-Figur, den Goethe-Freund Johann Heinrich Merck, und zuletzt 2018 über den „Sprechsteller“ Anton Kuh, von dem er 2016 die siebenbändige Werkausgabe im Wallstein-Verlag herausgegeben hatte. Dort erschien auch sein jüngstes Buch, „Komteß Mizzi. Eine Chronik aus dem Wien um 1900“.

Herr Schübler, Ihr neues Buch „Komteß Mizzi“, die Chronik eines Prozesses und der Fall einer jungen Prostituierten aus dem Wien um 1900, liest sich wie ein Krimi. Was halten Sie vom heute populärsten aller literarischen Genres?

Walter Schübler: Krimis sind eher nicht meines, aber ich hatte im letzten Sommer für zwei Wochen beim Haus- und Mamahüten in meinem Heimatdorf in Oberösterreich unter anderem die Brenner-Krimis von Wolf Haas im Gepäck. Die wollte ich wieder einmal lesen, und zwar chronologisch. Aus der Lektüre in der Abfolge der Erscheinungsjahre wurde dann aber nichts. Nachdem ich mit „Auferstehung der Toten“ fertig war, gab ich es meiner Mutter. Sie verschlang die Wolf-Haas-Bücher dann schneller als ich. So lief die Chronologie ziemlich aus dem Ruder.

Werden Romane durch Netflix überflüssig?

Schübler: Wenn ich zu müde zum Lesen bin, schalte auch ich die Glotze an. Aber das ist für mich nach wie vor nicht vergleichbar, ich finde Bücher um Längen spannender.

Was waren Ihre ersten Leseerfahrungen und Schreibversuche?

Schübler: Im Zug einer Wohnungsräumung nach einem Wasserschaden fielen mir einige Protestgedichte aus Jugendtagen, die ich mit sechzehn, siebzehn geschrieben hatte, in die Hand. Ich war gerührt, musste schmunzeln und schob sie in die Ablage. Meine ersten Leseerfahrungen machte ich mit den Buchgemeinschaftsausgaben von Karl May. Sie lagen mit ihrem dunkelgrünen Plastikeinband zu Weihnachten unterm Christbaum. Damit zog ich mich in mein Bubenzimmer zurück. Lesen war ein Rückzugs- und Fluchtort.

Welche Rolle spielte die Schule?

Schübler: Ich hatte zum Glück einen guten Deutschlehrer in der Mittelschule in Saalfelden, wo ich im Internat war, der uns mit aktueller Literatur bekannt machte. In der Buchhandlung dort habe ich mein ganzes Taschengeld gelassen. Von der Neugier, die damals geweckt wurde, zehre ich bis heute. Natürlich wurde auch der literarische Kanon durchgemacht.

Wie wurden Sie zum Literaturkritiker bei Falter und Presse?

Schübler: Ich war Lektor im Falter Verlag, als mich der damalige Sachbuchredakteur der Zeitschrift fragte, ob ich nicht über einen Auswahlband von Johann Heinrich
Merck schreibe wolle. Der Goethe-Freund hatte den Ruf eines durchschnittlichen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts mit Verdiensten um den „Sturm und Drang“. Über Merck habe ich dann eine große Biografie geschrieben.

Sie sind berufsbedingt ein Vielleser. Wer gehört zu Ihren Lieblingsautoren?

Schübler: Ich bin nach dem schon erwähnten Wasserschaden gerade dabei, meine Bücherreihen systematisch zu lichten, sechseinhalbtausend Bücher mussten aus der Wohnung. Ein paar Hundert waren zerstört, darunter ausgerechnet die großformatigen Typoskript-Romane von Arno Schmidt. Es war zum Weinen! Beim Wiedereinräumen habe ich sehr viel ausgeschieden, an Freunde oder auch an die Caritas verschenkt, einiges aber auch wiedergelesen. Von Schmidts frühen Kurzromanen wie „Seelandschaft mit Pocahontas“, „Das steinerne Herz“, „KAFF“ und seinen Literaturessays bin ich noch immer so begeistert wie vor fünfundzwanzig Jahren.

Welche Autoren wurden ausgeschieden?

Schübler: Von Hans Magnus Enzensberger kam einiges weg. Auch Alexander Kluge, zu dessen Privatmythologie der letzten Jahre ich keinen Zugang finde, wurde aussortiert, wobei ich den frühen Kluge noch immer schätze! Vom Dichter Ernst Jandl kam einiges weg, nicht jedoch von seinem Kollegen Andreas Okopenko, der mir bei einer Lesung an meiner Schule in Zell am See seine „Akazienfresser“ signiert hatte. Ich erlebe immer wieder derartige Anfälle und lese dann von einem Autor alles, Okopenko gehört dazu.

Welche Autoren halten Sie für schwierig?

Schübler: Bei Herta Müller hab ich drei Anläufe gebraucht, sie steht bei mir aber inzwischen ganz oben, Friederike Mayröcker habe ich nie gelesen. Über allem steht Claude Simon. Er schreibt theoretisch reflektierte Prosa wie kaum ein anderer, ist aber auch unglaublich sinnlich. Ich habe Simon auf Deutsch und Französisch gelesen, ihn laut zu lesen, ist unfassbar! Seinen Texten sind Figuren eingeschrieben, etwa ein artesischer Brunnen, wobei ich den frühen Simon, der noch „faulknert“, ganz besonders schätze.

William Faulkner wird gerade neu übersetzt. Lohnt sich das?

Schübler: Ja, diese Übersetzung ist sensationell. Ich habe Faulkner lange Zeit nicht mehr und kürzlich einige Monate lang hindurch sehr intensiv gelesen. Der Mann hatte keinerlei akademische Ausbildung, aber er schuf ein ganzes Dutzend von Meisterwerken. In diese Reihe gehören auch Vladimir Nabokovs „Erinnerung, sprich“ und „Lolita“.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Klassikern?

Schübler: Büchner liegt grade auf dem Tischerl bei der Leseliege, da bleibt mir auch beim x-ten Mal noch der Mund offen stehen! E. T. A. Hoffmann, Lichtenberg, Lessing, Kleist. Goethe wird immer dünner, aber wer in den „Werther“ nicht reinfällt, hat kein Herz. Seinen „Faust“ kann man immer wieder lesen, auch wenn er sehr trocken ist. Einer, den ich hier unbedingt noch erwähnen muss, ist Siegfried Kracauer, dessen Roman „Die Angestellten“ ich jedes Jahr einmal lese. Derzeit bereiten mir auch die Briefe der Liselotte von der Pfalz großes Vergnügen, mit ihren französischen Briefen poliere ich mein schon ziemlich verrostetes Französisch
auf.

Was muss ein Buch können, um Sie zu fesseln?

Schübler: Ich tendiere bei der Lektüre zum „Derben“. Das trifft nebenbei auch auf die Musik zu: Sie muss fett sein. Die erste Musik, die mich interessiert hat, war Blues. Sie muss mit einer gewissen Wucht daherkommen, das Filigrane ist nicht meines.

Keinerlei Dichtung unter den Lieblingsautoren?­

Schübler: Ich hatte mir eine Lyrikabteilung für die Pension angelegt, doch mittlerweile wurde sie außer Haus geschafft. Ich kann nur ein berühmtes Zitat bringen: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl – dann kann es sehr wohl auch am Kopf liegen.“ (lacht) Ich habe heute nur noch „Lieblinge“, wozu auch der Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze gehört.

Da Sie schon Benn erwähnen: Macht Lesen die Menschen besser oder umgekehrt, müssen Autoren besonders moralisch sein?

Schübler: Mit dem Großteil meiner Lieblingsautoren würde ich keinen Abend verbringen wollen! Das sind keine Guten! (lacht) Weder Arno Schmidt noch Benn, auch Anton Kuh war eine „Krätzn“! Von Karl Kraus brauchen wir gar nicht zu reden. Kuh war aber offenbar sehr unterhaltsam und als Stegreifsprecher eine einsame Größe. Daher rührt auch das von Friedrich Torberg in die Welt gesetzte Klischee, er habe nur viel gesprochen, aber nie viel geschrieben.

Das haben Sie mit der siebenbändigen Ausgabe von Kuhs Werken widerlegt.

Schübler: Alle, die Kuh persönlich gut kannten, schwören hoch und heilig, dass er privat am Kaffeehaustisch noch zwei Klassen besser war als bei öffentlichen Auftritten im Konzerthaus oder im Theater in der Josefstadt. Der Journalist Paul Elbogen beschreibt, wie er spätnachts aus einem Café betrunken hinauswankte und ihm vor stundenlangem Lachen über Kuhs Scherze alles wehtat.

Kommen wir zu Ihren Biografien, die alle sehr speziell sind …

Schübler: Es gibt Prinzipien, die ich in meiner Biografik verfolge: Ich arrangiere das Material möglichst so, dass sich jede Leserin ein eigenes Bild machen kann und nichts durch bevormundende Lektüre nahegelegt wird.

Ein ziemlich hoher Anspruch!

Schübler: Es wundert mich, mit welcher Naivität Biografien heute noch geschrieben und rezipiert werden! Von einer Biografie wird noch immer das Romanhafte erwartet. Sie muss wie der Roman des 19. Jahrhunderts mit einem auktorialen Erzähler funktionieren, der in alle Figuren genau hineinblickt, jedes Geschehen motivieren kann und der Handlung eine Logik unterstellt. Genauso werden diese Bücher dann auch besprochen, indem man einen Lebenslauf nacherzählt. Kein Gedanke wird darauf verschwendet, wie es der Biograf angelegt hat und wie er mit dem Objekt seiner Forschung und dem Material umgeht.

Die Menschen wollen unterhalten werden und ein ganzes Leben wie eine Folge von „Tatort“ konsumieren …

Schübler: Sie haben die Frage gestellt, ob Lesen aus uns bessere Menschen macht. Meine klare Antwort lautet – nein! All mein Tun richtet sich gegen diese Erwartung an das Erzählerische. Man bekommt einmal pro Woche zu hören, Erzählen sei ein menschliches Grundbedürfnis, eine anthropologische Konstante. Ich sage: nein! Ein menschliches Bedürfnis ist Regression, wogegen ja auch nichts zu sagen ist. Erzählende Literatur, Literatur, mit der man es sich bequem machen kann, bedient dieses Bedürfnis nach Regression. Ich sage damit nichts gegen die Literatur, die dieses Bedürfnis bedient, allerdings frage ich mich, warum gerade diese Literatur so hochgejubelt wird. Ich setze auf rationale, nicht auf emotionale Ansprache.

Was Ihre Biografien von vielen anderen unterscheidet – zusätzlich zu Materialreichtum und einer gewissen Sprödigkeit …

Schübler: Eines meiner wichtigsten Grundprinzipien lautet: Du sollst dir kein Bild machen. Ich halte das auch für eine Maxime im alltäglichen Umgang miteinander. Ich versuche kein fertiges Bild zu vermitteln, man muss sich lesend selbst ein Bild machen. Das Buch über Merck ist vielleicht trocken, aber wie sagte Alexander Kluge einmal: Der O-Ton gibt den Kammerton „A“ vor. Wenn Texte aus dem 18. Jahrhundert auf den ersten Blick schwer verständlich sind und man eine Zeitlang braucht, um sich einzulesen, dann weiß man, in welcher Zeit man sich bewegt. Was machen Biografen normalerweise? Sie modernisieren, bringen das Material in unsere Zeit und heben damit jegliche Distanz auf, die unbedingt notwendig ist, um Reflexion überhaupt einsetzen zu lassen. Indem das Material ganz nahe an den Leser herangebracht wird, verschwindet auch das Moment, dessentwegen man überhaupt liest.

Nämlich?

Schübler: Um etwas dazuzulernen …

Gleichzeitig mit der Merck-Biografie entstand das ganz anders konstruierte Nestroy-Buch.

Schübler: Diese Biografie besteht aus dreißig Kapiteln, die man über Stichwörter und Verweise untereinander kombinieren kann, wodurch verschiedene Lektürepfade durch das Buch entstehen. Jedes Kapitel ist aber auch für sich lesbar. Ich halte es für sehr zugänglich – von wegen spröde. Wenn es die Materiallage zulässt, kann auch dichte Prosa entstehen wie im Fall meines Buches, ich nenne es eine „Zoom-Biografie“, über Gottfried August Bürger. Dessen berühmte und großartige Ballade „Leonore“, die in engstem Austausch mit Freunden entstanden ist, lässt sich bis ins kleinste Detail nachempfinden. Man kann hier Bürger regelrecht über die Schulter schauen. Dennoch darf man das schöne Wort des Historikers Reinhart Koselleck vom „Vetorecht der Quellen“ nie vergessen. Alles, was ich als Biograf nicht belegen kann, habe ich als Biograf auch nicht zu s­chreiben! Das steht mir nicht zu.

Ihr neues Buch, „Komteß Mizzi“, behandelt den Selbstmord einer jungen Frau und den Prozess gegen ihren Vater, dem Kuppelei vorgeworfen wurde. Wie sind Sie auf diese Geschichte gekommen?

Schübler: Ich bin während meiner jahrelangen Beschäftigung mit Anton Kuh zufällig darüber gestolpert. Kuh ließ in einem Text über das Café de l’Europe am Graben dessen Gäste Revue passieren, Graben und Kärntner Straße waren damals ein Strich. „Die junge Komteß Veith, die von ihrem Vater verkuppelt wurde“, steht bei Kuh. Ich fand heraus, dass es sich bei diesem Prozess um einen berühmten Fall, eine „cause célèbre“ der Zeit gehandelt hatte. Gerichtsakten solch glamouröser Fälle wurden normalerweise aufgehoben.

Den haben Sie gefunden?

Schübler: Ich habe im Stadt- und Landesarchiv angefragt und recht bald erfahren, dass man den Prozessakt für mich ausgehoben hat: Zwei mit Spagat verschnürte Aktenbündel, in roter Tinte mit „Strafsache gegen Marcell“ und „Strafsache gegen Maria Veith“ beschrieben. Womöglich hat nie jemand diese Akten aufgeschnürt. Allerdings sind die Tagebücher der Marie Veith und die Rechnungsbücher ihres Vaters, der die Einnahmen seiner Tochter pedantisch vermerkt hat, nicht mehr dabei. Die angeblich „authentischen“ Tagebücher sind noch im Jahr des Prozesses in einem Budapester Pornografie-Verlag veröffentlicht worden, da hat sich jemand damals offenbar am Gerichtsakt bedient. Wer jedoch glaubt, es würden darin pikante Details aufgetischt, wird enttäuscht. Warum auch sollte eine Sexarbeiterin im Detail aufschreiben, was sie mit ihren Kunden macht? Also keine „Josefine Mutzenbacher“. Doch in den Rechnungsbüchern des Vaters tauchen über zweihundert „Cavalliere“ der besten Wiener Kreise namentlich auf. Manche erscheinen über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg in dreißig, vierzig Einträgen. Besagter Marcell „Graf“ Veith war nicht nur ein Hochstapler, es ist ihm mit dieser Kundenliste seiner Tochter ein regelrechter Skandal gelungen. Doch wäre es mir nie eingefallen, den Stoff kolportageartig zu bearbeiten, obwohl das naheliegt. Damit hätte ich mich den zeitgenössischen Boulevardzeitungen angeschlossen, die diese Causa zum Gegenstand öffentlicher Empörung gemacht haben: „Dieser ruchlose Vater, der sein eigen Fleisch und Blut auf den Weg der Schande führt“, hieß es damals. So einfach wollte ich es mir nicht machen. Daher komme ich in meinem Buch nicht mit der Moralkeule daher. Um noch einmal Alexander Kluge zu zitieren: „Mehr als die Chance, sich selbstständig zu verhalten, bietet kein Buch.“ Natürlich ist Veith, dieser Rabenvater, zu faul, um zu arbeiten und seinen Lebensunterhalt
selbst zu verdienen, wie sich im Verhör vor dem Untersuchungsrichter herausstellt. Aber dann kommt er selbst vor Gericht zu Wort – und ich verkneife mir jeglichen Kommentar! Ich will Leserinnen und Leser nicht bevormunden. Das Buch soll als Erzählung funktionieren und bei aller Trockenheit der Chronik auch spannend sein. Es gibt keine didaktischen Vorkehrungen, keine Erzählinstanz, sondern nur verbindende Texte.

Man muss also den Fall Veith in aller Komplexität samt Prostitution, Skandal und Selbstmord selbst lösen?

Schübler: Mir geht es ausschließlich um das Wie. Welche Geschichte dabei erzählt wird, ist fast egal. Schon auf der ersten Seite findet sich etwas wie meine, um es hochgestochen zu sagen, poetologische Maxime. Über die aufgefundene Leiche der Marie Veith heißt es: „Das Weiß der bis zu den Ellbogen reichenden Glacéhandschuhe ebensowenig vom grauen Schlamm versehrt wie das Schwarz der Lackhalbschuhe.“ Genau das ist mein Thema: schwarz-weiß, die Farbe he­rausnehmen. Bis zum Ende des Buches bleibt unklar, ob der Vater seine Tochter tatsächlich zur Prostitution gezwungen hat. Es ist nie nachgewiesen worden.

Womit wir auf recht gefährliches Terrain geraten …

Schübler: Der Verlag wollte zusätzlich zu meinem Nachwort unbedingt auch ein Vorwort, in dem meine Haltung und meine Position klargestellt werden sollten: Dass ich Prostitution, noch dazu Zwangsprostitution, und überdies bei einer Minderjährigen, ablehne. Ich habe schon damals gesagt, wenn der Literaturbetrieb durch Political Correctness so vertrottelt ist, dass Menschen kein eigenes Urteil mehr zugestanden wird, dann lasse ich es bleiben. Klar hätte man die Geschichte auch in die MeToo-Debatte hineinziehen können. Die Sache ist heikel, aber die Frage nach der Schuld des Vaters, der ein Bastard war, ist nicht zu beantworten.

Marcell Veith hat das Theresianum besucht und seine Tochter einer Reihe von Theresianern zugeführt …

Schübler: Alles, was in Wien Rang und Namen hatte, war in diese Geschichte involviert.

Wien um 1900 ist in Ihrer Chronik keine gute  alte Zeit, sondern ein Kontinent der Verkommenheit, auf dem es vor allem darum geht, die „Unschuld“ zu beweisen …

Schübler: Das wird gleich auf der ersten Seite angesprochen, wo die Beschreibung der Auffindung der Leiche gegen die strikte Chronologie verstößt. Bei der Obduktion geht es dem Staatsanwalt vor allem um die Intaktheit der Virginität. Darum kreist diese Gesellschaft. Eine bürgerliche Frau hatte „intakt“ und „unbefleckt“ in die Ehe zu gehen, weshalb es in Wien auch dieses unglaubliche Ausmaß an Prostitution gab. Bürgerliche junge Herren haben sich wie die Adeligen am Dienstpersonal vergriffen, was den Eltern sehr recht war, weil sie sich andernfalls möglicherweise angesteckt hätten – oder sind gleich zu Prostituierten gegangen. Um die Sexualökonomie der besseren Gesellschaft am Laufen zu halten, musste es diese Unmenge an Prostituierten geben, die allerdings als das Letzte galten. Karl Kraus hat aus dem „Fall Veith“ den gegenteiligen Schluss gezogen.

Sie haben seinen Artikel bewusst nicht in Ihr Buch aufgenommen?

Schübler: Auch wenn es Kraus darin in erster Linie um die Moralheuchelei des Bürgertums ging, habe ich ihn nicht aufgenommen, weil er die Prostitution verherrlicht. Das war Otto Weininger pur. Man kann bei Kraus lesen, dass das sinnliche Wesen Weib erst in der Prostitution zu seiner Bestimmung kommt. Das geht nicht!

Dieses Argument funktionierte schon vor hundert Jahren nicht mehr?

Schübler: Nein – es ging schon damals nicht mehr. Man kann das Gegenteil beim Kraus-Gegner Anton Kuh sehr deutlich sehen, der die emanzipierte Frau forderte. Kuh ging auch deshalb nach Berlin, weil er dort junge, selbstbewusste Frauen fand. Natürlich gab es die auch in Wien – etwa das Schiele-Modell Bibiana Amon. Sie saß mit am Kaffeehaustisch der Literaten und wurde respektiert. Ich finde es an Kraus widerlich, wie er mit dem Mann-Frau-Thema umgeht.

Bleibt nur noch die Frage nach Ihren Lieblingsbuchhandlugen …

Schübler: Da stehen jetzt Freundschaften auf dem Spiel. Fast alle Bücher bestelle und kaufe ich bei Reinhold Posch auf der Lerchenfelder Straße. Das ist eine der letzten Buchhandlungen mit markantem Profil und ebenso kundigen wie sympathischen Menschen hinter der Budel. Ähnlich, eine Generation jünger, bei Bernhard Riedl auf der Alser Straße. Vor Kurzem erst hat es mich zufällig in die Buchhandlung Franz Leo & Comp. am Lichtensteg verschlagen: 200 Jahre Tradition und ganz zeitgenössisch geführt! Das Antiquariat Schaden in der Sonnenfelsgasse ist immer einen Besuch wert, ebenso das Antiquariat Kantner in der Windmühlgasse.

 

(c) Stefan Knittel
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