Anzeiger 9/2020 – Rückblickend eine wahnsinnige Entscheidung

Sagt der Historiker Oliver Rathkolb über seine ersten Versuche, von Geschichtsprojekten zu leben. Mittlerweile ist er Universitätsprofessor in Wien und legt eine Biografie über Baldur von Schirach vor

Interview: Erich Klein

Oliver Rathkolb (Jg. 1955) studierte an der Universität Wien Rechtswissenschaft und Geschichte. Von 1985 bis 2003 war er Leiter der Stiftung „Bruno Kreisky Archiv“, von 2005 bis 2008 Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit. Das Gespräch über sein neues Buch „Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“ fand am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien statt, dessen Vorstand Rathkolb seit 2016 ist.

Herr Rathkolb, um vor der Zeitgeschichte zu beginnen: Ihre wichtigen Leseerlebnisse in Kindheit und Jugend?

Oliver Rathkolb: Ich bin in Litschau im Waldviertel aufgewachsen und habe relativ spät zu lesen begonnen. Es sind unterschiedliche Bücher, an die ich mich erinnere: zum Beispiel an Geschichten des Altertums von meinem Großvater, noch in Frakturschrift gedruckt und mühsam zu lesen. Es war damals schwierig, am Land Bücher zu bekommen, aber gut erinnere ich mich an die Bücher des Donauland-Vertriebs, etwa „Robinson Crusoe“, ein Geschenk meiner Mutter. Es hat mich total fasziniert. Außerdem muss ich, was heute kaum jemand mehr zugeben will, gestehen, dass ich ein begeisterter Karl-May-Leser gewesen bin. Mein Interesse an den USA rührt auch von diesen Traumwelten her, die der „gute“ Karl May nur erfunden hat.

Kein Lektüreerlebnis in Sachen Politik am Gymnasium?

Rathkolb: Ein für meine politische Sozialisation zu Beginn der 1970er-Jahre sehr wichtiges Buch war eine dünne Wahlkampfbroschüre mit dem Titel „Mann auf Draht“, der Autor anonym. Verfasst war es vom damals prominenten ORF-Journalisten Hellmut Andics, diktiert hatte es Bruno Kreisky. Ich habe darin auch sehr viel über jüdische Geschichte erfahren, auch über Dinge, die in der Mittelschule noch nicht thematisiert wurden.

Wo sind Sie zur Schule gegangen?

Rathkolb: In Litschau in die Volksschule, dann in Gmünd, täglich mit dem Bus.

Wie wichtig waren Lehrer für Sie, etwa Deutsch- oder Geschichtslehrer?

Rathkolb: Ich hatte eine sehr gute Geschichtslehrerin, die eine meiner Schwächen übersah: Ich konnte mir keine Jahreszahlen merken! Außerdem gefiel ihr, dass ich damals voller Begeisterung Bücher einer Time-Life-Serie über Geschichte verschlang. Das waren von Experten verfasste historische Bände, die auch ein Mittelschüler leicht verstehen konnte. Meine Professorin gehörte zwar der Wehrmachtsgeneration an, präsentierte aber, wofür ich ihr bis heute dankbar bin, einen sehr objektiven Unterricht. Auch einige meiner Maturafragen hatten mit dem Nationalsozialismus zu tun. Ich kam also, für den Maturajahrgang 1974 ungewöhnlich, ganz gut ausgerüstet aus der Schule.

Sie sind so alt wie der österreichische Staatsvertrag. Wann kam Ihnen in den Sinn, Historiker zu werden?

Rathkolb: Das ist eine schwierige Frage. Ich komme aus einer Ärztefamilie und wollte natürlich alles, nur nicht Arzt werden. Zuerst interessierte mich Journalismus. Ich hatte auch eine Schülerzeitung gemacht und las sehr viel über Journalismus. Für den Broterwerb studierte ich dann aber Jus und begann nach der ersten Staatsprüfung parallel dazu ein Geschichtsstudium. Kurioserweise interessierte mich damals vor allem das Mittelalter. So verfasste ich eine glühende Abhandlung über die Kuenringer im Waldviertel, unter die mein damaliger Lehrer, Professor Herwig Wolfram, schrieb: „history in action!“ (lacht) Zu einem Schlüsselerlebnis wurde dann ein Seminar an der Zeitgeschichte bei Gerhard Jagschitz, in dem es um die Nachkriegsplanungen der Alliierten für Österreich und Europa ging. Das faszinierte mich unglaublich, so blieb ich bei der Zeitgeschichte. Dass ich Historiker werde, entschied sich in dem Moment, als ich 1978 den Dr. jur. hatte und, statt das Gerichtsjahr zu machen, begann, mich mit Projekten weiterzuwursteln.

Das ging damals?

Rathkolb: Rückblickend eine wahnsinnige Entscheidung, die Projekte haben eine völlig ungesicherte Existenz bedeutet. Um halbwegs über die Runden zu kommen, hatte ich immer zwei Jobs. Endgültig zur Zeitgeschichte brachten mich zwei Personen: Erika Weinzierl, die mir eine Halbtagsstelle am Bolzmann-Institut für Geschichte der Gesellschaft gab, und Bruno Kreisky. Nach einer Interviewserie fragte er mich, ob ich seine Memoiren und sein Archiv betreuen würde. Das wurde gleichsam mein drittes Doktorat – Kreisky war eine unglaubliche historische Fundgrube.

Das waren Geister aus zwei verschiedenen ­Lagern. Wie würden Sie sich damals politisch verorten?

Rathkolb: Die Siebzigerjahre: Das waren Kreisky, Moderne, Aufbruch, Internationalisierung. Ich kann das heutigen Studierenden kaum vermitteln. Man glaubte damals, Österreich sei der Mittelpunkt der Welt. Wir hatten den UN-Generalsekretär, Österreich war in internationale Initiativen involviert. Man hatte tatsächlich den Eindruck, die Welt würde jetzt mittels Aufklärung positiver gestaltet. Der Nord-Süd-Konflikt war ein großes Thema. Rückblickend gesehen handelt es sich um eine totale Selbstüberschätzung, aber diese Dinge haben mich sehr geprägt. Und es schmerzt mich auch, dass wir zwar heute in Europa angekommen, aber nicht mehr imstande sind, global wirksam zu werden. Stichwort Flüchtlinge! In den Siebzigerjahren hatte man ein anderes Verständnis dieser Problematik – nicht nur auf der Ebene der Vereinten Nationen, sondern auch auf innenpolitischer Ebene. Heute befinden wir uns stattdessen in der Turboglobalisierung!

Wem oder was trauern Sie da konkret nach?

Rathkolb: Dem Willen der politischen Entscheidungsträger, egal aus welchem Lager, die Welt positiver zu gestalten. Mit einem globalen Blick und globalen Methoden, ohne eine verengte, austrozentrierte Politik zu betreiben.

Damals herrschte allerdings auch Kalter Krieg. Die Welt war geteilt und vom „Gleichgewicht des Schreckens“ beherrscht …

Rathkolb: Es war eine geteilte Welt, die auf dem Bodensatz der Selbstzerstörung tanzte! Rückblickend ist es ein Wunder, dass es zu keinem Atomkrieg gekommen ist, der Europa dem Erdboden gleichgemacht hätte. Das macht auch die Absurdität dieser Zeit aus, in der ständig versucht wurde, Konflikte zu reduzieren. Das gelang dann als Folge der ökonomischen Entwicklungen mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zerfall der Sowjetunion. Was jedoch leider nicht gelungen ist: die internationale „Verregelung“ der Transformation Osteuropas und der Sowjetunion. Stattdessen sind über diese Welt der Turbokapitalismus und Neoliberalismus ungehemmt hereingebrochen.

In Litschau und Gmünd sind Sie direkt am ­Eisernen Vorhang aufgewachsen …

Rathkolb: Ich kann mich gut daran erinnern. Als ich im Juli 1968 mit meinem Bruder und meiner Schwägerin nach Prag gefahren bin, habe ich zum ersten Mal gefürchtet, dass es zu einem Krieg kommen könnte. Beim Urlaub im damals kommunistischen Jugoslawien wurde klar, dass die Jugoslawen sogar noch größere Angst als die Tschechen hatten, die Sowjetunion könnte einfach Tabula rasa machen und auch bei ihnen einmarschieren. Ich habe damals richtig Kriegs­angst verspürt! Solche Gefühle wurden dann, typisch menschlich, wieder verdrängt. Man hat auf die Vernunft von Staatsoberhäuptern und Abrüstungsverhandlungen gesetzt. Auch die österreichische Politik war in den Siebziger- und Achtzigerjahren darauf ausgerichtet, Konflikte möglichst zu reduzieren, nicht nur in Europa, sondern auch im Nahen Osten. Um nicht wie in den Jahren 1938/39 Teil eines beginnenden und dann explodierenden Weltkriegs zu werden.

Kommen wir zu Ihrem neuen Buch. Sie wurden in einer Zeit akademisch sozialisiert, als man keine Biografien schrieb. Das war sogar eher verpönt.

Rathkolb: Ich muss sagen, das ist eine Schwäche der deutschsprachigen Geschichtsschreibung, sich so sehr vor Biografien zu fürchten. Neuerdings gibt es außerdem einige großartige Beispiele, die zeigen, wie wichtig kritische Biografien sind. Entscheidungsprozesse und Emotionen können darin viel plastischer und genauer geschildert werden. Die Biografie kann wie im Fall Schirach ein Mittel sein, um zu erklären, wie sich jemand, der aus einem relativ begüterten Elternhaus kommt, in dem Goethe und Schiller hochgehalten werden, so rasch für Adolf Hitler begeistern kann. Das trifft auch nicht nur auf Baldur von Schirach zu, sondern sehr rasch auf die ganze Familie. Die amerikanische Mutter ist nach Hitlers erstem Besuch von diesem ebenso begeistert wie der Vater, Gründungsmitglied des Kampfbundes für deutsche Kultur, eines antisemitischen Agitationsvereins. Das sind höchst interessante Prozesse, die deutlich machen, dass der Nationalsozialismus nur deshalb so massiv an die Macht kommen konnte, weil es ihm gelungen ist, sich als eine „catch-all party“ zu präsentieren. Er hat sich als Volkspartei quer durch Arbeiterschichten, bürgerliche Eliten und den Adel, was in Deutschland sehr wichtig gewesen ist, als Basis einer Bewegung festgesetzt.

Schirach, für die Deporation der Wiener Juden verantwortlich, ist hierzulande ziemlich in Vergessenheit geraten, sieht man vom Gerücht ab, er habe in der „Ostmark“ eine irgendwie ­liberale Kulturpolitik betrieben …

Rathkolb: Dass Schirach vergessen wurde, hängt mit zwei Dingen zusammen. Weil er sich in der Zeit von 1940 bis 1945 nicht im Zentrum des Dritten Reichs aufgehalten hatte, interessierte sich die Historiografie mit wenigen Ausnahmen nicht für ihn. Die deutsche Forschung konzentrierte sich auf die Aufbaugeneration nach 1945, die Hitlerjugend oder auf die Flakhelfer-Generation, die strukturhistorisch bearbeitet wurden. Mich interessierten an Schirach mehrere Dinge, über die bislang wenig bekannt war. Er spielte etwa in der Phase des Imageaufbaues­ von Adolf Hitler, heute würde man von Politikmarketing sprechen, eine zentrale Rolle. So war er mit der Tochter von Hitlers Leibfotograf Hoffmann verheiratet und ließ Broschüren, die in Deutschland und Österreich zu diesem Zeitpunkt sehr wichtig waren, mit dessen Fotos bebildern. Ein diesbezügliches Schlüsselwerk war „Hitler: Wie ihn keiner kennt“. Ein anderes wichtiges Moment: Schirach hat Hitler dem bürgerlichen und aristokratischen Publikum geöffnet. Bei den Reichstagen 1932/33 war die NSDAP die Fraktion mit dem höchsten Anteil von Adeligen. Schirach stand für den von Hitler sehr geschickt eingeleiteten Kontakt mit Repräsentanten des Bürgertums. Hitler hatte erkannt: Wenn ich in Deutschland die Macht will, brauche ich Goethe und Schiller …

Und ein weiterer Punkt?

Rathkolb: Schaut man die Liederbücher an, die vor 1945 von Millionen von Jugendlichen benützt worden sind, stößt man immer wieder auf Texte von Schirach. Er gehörte einer Generation an, die im Ersten Weltkrieg nicht mehr gekämpft hatte, aber Sehnsucht hatte, wieder kämpfen zu dürfen. Er ist einer von jenen Personen, die mehrere Generationen auf den Zweiten Weltkrieg und auf unglaubliche Nibelungentreue zu Hitler eingeschworen haben. In meinem Buch gibt es ein Kapitel über die in der Endphase des Krieges von HJ-Führern begangenen Verbrechen. Bei den Urteilen am Volksgerichtshof Wien 1945 sieht man die Folgen der ideologischen Umbildung mehrerer Generationen von Jugendlichen. Der Poet des Führers spielt dabei eine gewichtige Rolle. Beim Prozess in Nürnberg sagt er einmal, dass er in den Schlüsseljahren 1934 bis 1936 an zentraler Stelle an Hitlers Weg zur absoluten Macht beteiligt war. Zumindest theoretisch hätte es damals noch die Möglichkeit gegeben, das Regime zu kippen. Passiert ist aber das genaue Gegenteil: Das Regime wurde auch im bürgerlichen Bereich und bei Intellektuellen verankert. Schirach hat dasselbe dann sehr geschickt auch als Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien gemacht, indem er sich die Kunst und die Literaten mit einem unglaublichen Budget holte.­

Woher rührt der Mythos vom „liberalen“ Nazi Schirach?

Rathkolb: Schirach wollte den Nationalsozialismus verstetigen – was den Bereich der Kunst betraf, unterschied er sich dabei von Hitler und Goebbels. Mit rückwärtsgewandten Modellen war für ihn diesbezüglich nichts zu erreichen. Alles, was von jüdischen Künstlern stammte, war inakzeptabel, allem anderen gegenüber war er offen. Ich habe das in einem Kapitel über die Kunsttheorien von Hitler und Goebbels beschrieben. Kunst musste für die beiden Nationalsozialisten mehr oder weniger wie Fotografie funktionieren, Schirach geht hingegen schon mehr auch Richtung abstrakte Kunst. Darüber gab es einen großen Konflikt. Aber er machte dann etwas, was aus Sicht der Nationalsozialisten strategisch perfekt war. Unter seinem Vorgänger Bürckel war es unter den eigenen ostmärkischen Nationalsozialisten zu großer Resistenz gekommen, weil ihnen die Identität genommen wurde.

Was bedeutet …

Rathkolb: Sie waren Nazis und Deutsche, wollten aber etwas Besonderes sein – ostmärkische Nazis! Bürckel hatte derartige Illusionen zunichte gemacht und zentrale Stellen mit eigenen Leuten besetzt. Schirach dreht das Ganze zur Wiener Kultur und gibt den Österreichern und Österreicherinnen eine Bindestrichidentität. So geschehen etwa bei der Rede zum Jubiläum der Philharmoniker. Bei der Mozartwoche erklärt er: Ihr seid etwas Besonderes, die Musik ist in Wien besser als in Berlin. Von Goebbels wurde das mit Argusaugen verfolgt, es war auch ein Grund für Konflikte mit Hitler, der Wien mehr oder wenige degradieren und Linz mit den Mu­seen voller Raubkunst zur neuen Kunstmetropole aufwerten wollte. Schirach machte das genaue Gegenteil: Er wollte Wien einen Sonderstatus im Deutschen Reich verleihen und wurde nur deshalb nicht abberufen, weil es keinen Nachfolger gab.

Wie und warum gelang es Schirach, sich beim Nürnberger Prozess herauszureden und nicht wie der Großteil der anderen Angeklagten zum Tod verurteilt zu werden?

Rathkolb: In den bisherigen Publikationen über Schirach wurde überraschenderweise eine Quelle ignoriert, die mir sehr wichtig erscheint. Es gibt da den Nachlass des amerikanischen Gerichtspsychologen Gustav M. Gilbert, der sehr gut Deutsch sprach und mit Schirach ein sehr enges „Verhältnis“ entwickelte. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Psychologen mit den Gefangenen fast täglich zu tun hatten. Interessanterweise kommt Schirach in allen Biografien irgendwie gut weg. Er erkannte, dass er die Amerikaner und Briten überzeugen musste, dass er eigentlich Amerikaner sei. Das machte er sehr geschickt. In seinem Eingangsstatement beim Nürnberger Prozess, das der Vorsitzende mehrfach unterbricht, erklärt er seine amerikanischen Wurzeln und dass er aufgrund der Publikation von Henry Ford Antisemit geworden sei. In einer handschriftlichen Notiz von Schirach, die sich in Yad Vashem im Nachlass von Gilbert befindet, trifft er den Ton genau: Er attackiert Hitler ganz massiv. Ein derartiges Statement von Schirach findet man weder davor noch danach. Es handelt sich dabei um ein Statement, das er Gilbert gab, um es an seine Adjutanten weiterzureichen, die beim Prozess nach Schirach aussagen mussten. Eigentlich war das eine Art Zeugenbeeinflussung! Auf jeden Fall gelang es Schirach, den Gerichtshof mit Ausnahme der Sowjets zu überzeugen, dass er mit der Ermordung der Juden nichts zu tun hatte. Heute haben wir genügend Dokumente, aus denen deutlich zu ersehen ist, dass er mit Hitler direkt darüber verhandelte. Wobei für ihn in Wien das zentrale Thema nicht die Juden und Jüdinnen waren, sondern die Wohnungsknappheit.

Für Parteimitglieder?

Rathkolb: Die Nazis waren nicht mehr imstande zu bauen: Alles ging in die Kriegsrüstung. Sogar der Bau von Luftschutzräumen wurde eingestellt. Schirach wurde klar, dass es in der Wiener Gesellschaft ob der Wohnungsknappheit kocht. In einer Debatte mit Hitler ging es um die Deportation der Wiener Juden, und Schirach exekutierte alles Weitere. In die Details war er nicht mehr involviert. Es ist mir auch gelungen, etwas nachzuweisen, was in dieser Dimension bislang nicht bekannt war. Schirach hat in Nürnberg behauptet, er habe über die Schoah erst 1944 durch den Reiseschriftsteller und Konsulenten des Auswärtigen Amtes Collin Ross erfahren. Tatsächlich gibt es das Transkript einer Rede des Gauleiters des Reichsgaus Wartheland, Arthur Greiser, der 1942 in Wien vor politischen Leitern der ­NSDAP über die Deportation der Wiener Juden spricht. Er hätte nur ein paar Tausend Arbeitsjuden gebraucht, der Rest schließe Frieden mit Gott. Damit brachte er ganz eindeutig die Liquidierung von Tausenden Juden in seinem Arbeitsbereich zum Ausdruck. Dem Transkript zufolge folgte tosender Applaus der Anwesenden!

Was ist Ihr zentraler Punkt in der Biografie von Schirach?

Rathkolb: Ein Hauptanliegen dieses Buches ist, deutlich zu machen, dass der Nationalsozialismus imstande war – und Schirach spielte dabei eine ganz wichtige, zentrale Rolle –, sich auch als jugendliche Bewegung zu präsentieren, als eine Bewegung für alle. Es war der Versuch, alle Schichten und Klassen aufzulösen, obwohl Schirach selbst bis zu seinem Lebensende sehr standesbewusst geblieben ist. Er hatte in der Hitlerjugend den Spitznamen „Baron“. Man sieht das zum Beispiel an seiner Wohnung, die er schon sehr früh auf Parteikosten gemietet hat. Auch daran, wie er sich anzieht, welche Freunde er hat, wie er reist. Sofern man den Quellen vertraut, war er jemand, der großen Wert auf bestimmten Stil und Status legte. Man sieht das auch an seinem Bunker am Wiener Gallitzinberg, den er im Jugendstil herrichten ließ. Schirachs Wohnungen waren immer strategisch gut gelegen, in der Nähe zur NSDAP oder zu Hitler. Als er nach seiner Niederlage im Kampf um das Erziehungsministerium in die Provinz abgeschoben wird, beginnt er dort groß Hof zu halten. Ein weiterer Spitzname von Schirach war „Pompadour von Wien“. Egal ob auf der Hohen Warte, in der Hofburg, er hat sich immer sehr inszeniert. Selbst im „Endkampf“ wurden die Räume unter der Hofburg mit Teppichen ausgelegt und der Champagner floss.

Nach Verbüßung der Haftstrafe wurde Schirach 1966 freigelassen. Wie ging es weiter?­

Rathkolb: Zu seiner Haftentlassung gibt es eine interessante Anekdote, die Speer in seinen Erinnerungen erwähnt. Speer und Schirach unterhalten sich darüber, was sie machen würden, wenn sie aus dem Gefängnis rauskommen. Speer sagt: „Ich kaufe mir einen ordentlichen Anzug.“ Schirach entwickelt gleich Fantasien über einen Frack, Maßhemden und einen Morgenmantel. Tatsächlich ist Schirach völlig verarmt gestorben. Das Vermögen seines Vaters und seiner Mutter war nach dem Krieg beschlagnahmt, wurde dann aber freigegeben. Er hat mit einer Memoiren-Serie, für die der Stern ordentlich bezahlte, auch relativ gut verdient. Dennoch blieb nichts übrig. Zuletzt war er, was auch gesagt werden muss, Alkoholiker, der in einer abgewohnten Pension von ehemaligen BDM-Führerinnen verstarb. Er hatte alles verpulvert.

Können Sie Schirach in einem Satz charakterisieren?

Rathkolb: Ein standesbewusster perfekter Netzwerker und Karrierist, der immer ein klares Ziel hatte: Demokratie ist keine Regierungs- und Staatsform.

 

(c) Stefan Knittel
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