Anzeiger 9/2020 – Wildlife, Piratinnen und Gin

Bücher erzählen nicht nur schöne Geschichten, sie sind auch schön anzusehen. Knallige Graphic Novels, düstere Illustrationen oder kunstvolles Design: Das sind die kreativsten Bücher im Herbst.

Text: Hannah Lea Jutz

Man soll ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen – don’t judge a book by its cover. Bei diesen Büchern kann man jedoch genau das tun! Die kreative Aufmachung und Designs dieser Bücher ergänzen das Leseerlebnis und bereiten den Lesenden noch mehr Freude. Das aktuelle Herbstprogramm bietet neben guten Geschichten einiges fürs Auge.

Haptik, Ästhetik und Kulinarik: Erlebnisse für alle Sinne

Dass Papier nicht nur Papier ist, zeigt „+rosebud­ no.8“ (Verlag für moderne Kunst). Seit zwanzig Jahren lotet das Magazin die verschiedenen Möglichkeiten des Mediums Papier aus. Neben einem Essay des österreichischen Autors und brand 1-Mitbegründers Wolf Lotter über Innovation und Kreativität in digitalen Gesellschaften bietet das Magazin verschiedene visuelle Inputs. Eingebunden in handgeschöpftes Marmorpapier mit silberner Titelprägung in 42 verschiedenen Farben. Welche Variante man letztendlich erhält, ist dem Zufall überlassen.

Um Papier geht es auch in „Die Teilung der Welt“ (Wagenbach). Ursula Schulz-Dornburgs Fotografien zeigen das Archivo General de Indias in Sevilla vor seiner Sanierung. Auf zahlreichen Papieren sind 300  Jahre spanische Kolonialgeschichte dokumentiert: 8.000 Karten, 90 Millionen Dokumente und bedeutsame Verträge. Martin Zimmermann erzählt zu den Fotos die Geschichte von waghalsigen Entdeckungsreisen, gefährlichen Begegnungen und folgenreichen Schriftstücken, etwa die über den Vertrag zur Teilung der Welt 1494 zwischen den Imperien von Portugal und Spanien.

In „Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie“ (De Gruyter) schreiben Anne Eusterschulte und Sebastian Tränkle über die Auffassung dieses Philosophen von der Ästhetik der Moderne („Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“) und reflektieren die gesellschaftlichen Bedingungen von Kunst nach dem Holocaust. Eine Pflichtlektüre für Studierende, Lehrende und Forschende.

Kaum ein Getränk ist aktuell so populär wie Gin. Mit „Das Gin-Buch“ (Insel) legt Experte David­ T. Smith ein Handbuch vor, das von den unterschiedlichen Herstellungsmethoden bis zu den klassischen Cocktailrezepten alles beinhaltet. Illustrationen von Stuart Patience zeigen, wie richtig garniert wird und wie die Cocktails später aussehen sollen.

In „Spaghetti al pomodoro“ (Wagenbach) geht es um den Mythos des wohl italienischsten aller Gerichte (die Nudeln stammen aus China, die Pomodori aus Südamerika). Der Historiker Massimo­ Montanari erzählt die Geschichte von Pasta, Pfeffer, Hartkäse und Tomaten. Verpackt ist die Geschichte mit zahlreichen Abbildungen in rotem Leinen mit Prägung und aufgeklebtem Schildchen.

Über das Mittelmeer geht es in die israelische Metropole Tel Aviv. In „Tel Aviv“ (mare) zeigt der Berliner Fotograf Jan Windszus eine Stadt der Gegensätze: weltoffen, feministisch und „LGBTQI+ friendly“ wie keine andere Stadt im Nahen Osten, aber gleichzeitig sind Tel Avivs Einwohner Zeugen weltgeschichtlicher Katastrophen. In diesem Bildband hat Windszus die inneren und äußeren Schönheiten der Stadt festgehalten.

 

Kunst als politischer und gesellschaftlicher Botschafter

Die israelische Erfolgsautorin und Comiczeichnerin Rutu Modan kämpft in „Die Tunnel“ (Carlsen) mit Satire und auf unterhaltsame Art und Weise gegen die Verbohrtheit in ihrer Heimat und für den Frieden. Die Graphic Novel erzählt die Geschichte von einer Gruppe Israeli, die einen illegalen Tunnel in die Westbanks gräbt und dabei auf eine Gruppe Palästinenser stößt, die dasselbe in die entgegengesetzte Richtung planen. Als sich ihre Wege kreuzen, müssen sie einen Weg finden, miteinander auszukommen, um nicht aufzufliegen.­

„Shingal“ (bahoe books) verfolgt den Kampf der Brüder Mazlum und Asmail um die Rettung ihrer Familie, während sie mit Tausenden anderen Jesiden vor dem IS fliehen. Der Berg Shingal mit seinen steilen, Schatten spendenden Hängen könnte ihre einzige Rettung sein, denn in der Sommerhitze wird das Wasser für 50.000 Menschen knapp. Die Graphic Novel basiert auf den Recherchen von Tore Rørbæk und Mikkel Sommer sowie vieler Interviews und erzählt die Geschichte des Völkermords an den irakischen Jesiden im August 2014.

In der italienischen Provinz der 60er-Jahre spielt „Dreimal Spucken“ (Avant) von Davide Reviati­. Die Berufsschüler Grisou, Katango und ihre Freunde verbringen hier ihre Freizeit in Bars, beim Billard oder rauchend am Fluss. In dessen Nähe wohnt eine Roma-Familie in einem verfallenen Bauernhaus. Von Loretta, der Tochter, fühlen sich die Jungen gleichzeitig angezogen, aber auch abgeschreckt. Ein Buch über Alltagsrassismus, Freundschaft, Pubertät und den Übergang ins Erwachsenenleben.

Mit der Pubertät und den damit verbundenen hormonellen Veränderungen tritt die Sexualität in den Vordergrund. „Striptease daheim“ (Matthes & Seitz Berlin) ist eine humorvolle Aufforderung an alle, sich ihrer eigenen Sexualität bewusst zu werden und sich über die Grenzen der Scham hinwegzusetzen. 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buchs der Profi-Stripperin und Entertainerin Libby­ Jones erscheint die Geschichte in neuem Design und neuer Aufmachung.

Bei einigen wird die eigene Sexualität und dessen Wahrnehmung krankhaft. „XES“ (Avant) von Florian Winter erzählt von Florian, der an Sexsucht leidet und ständig auf der Suche nach sexueller Befriedigung ist. Sexsucht wird seit 2019 von der WHO als Krankheit eingestuft, Schätzungen zufolge gibt es allein in Deutschland eine halbe Million Sex- und Pornosüchtige. Diese Graphic Novel ist eine Mischung aus Erfahrungsbericht, Trauma­tagebuch und Ratgeber, der die Lesenden mitreißt.

 

Die goldenen Sechziger und klassischer Tanz

„Nico“ (Verlag für moderne Kunst) porträtiert das Leben der Sängerin und Schauspielerin Nico. Mit ihrem düsteren Timbre prägte sie Songs wie „Femme Fatale“ und „All Tomorrow’s Parties“ von Velvet Underground. In ihrer eigenen Musik spiegelte sich Wahn, Suizidalität und Sucht. In diesem Buch finden sich zahlreiche Interviews, rare Fotografien und Beiträge verschiedener Zeitgenossen.

Ebenfalls in den 1960ern waren Hits wie „Monday, Monday“ und „California Dreamin’“ von The Mamas & The Papas Millionenhits. Doch der Weg der Sängerin Cass Elliot ins Rampenlicht gestaltete sich nicht einfach. Geboren als Kind jüdischer Einwanderer, träumt sie schon früh davon, berühmt zu sein. Doch ihr Übergewicht stellte sich als großes Hindernis heraus. In charmanten Zeichnungen erzählt Pénélope Bagieu in „California­ Dreamin’“ (Reprodukt) die unglaubliche Erfolgsgeschichte von Cass Elliot.

Die erfolgreichste Band aller Zeiten produzierte in den zehn Jahren ihrer Existenz zwölf Alben und über 200 Lieder. John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr revolutionierten mit ihrer Musik die Welt. Bahoe veröffentlicht mit „The Beatles“ (bahoe books) eine Graphic Novel über die Geschichte der Fab Four. Vierundzwanzig renommierte Zeichner arbeiteten an diesem Buch mit. Dazu kommen über sechzig Fotos und Fakten über die populärste Band der Welt.

In „Isadora“ (Reprodukt) zeigen Autorin Julie Birmant und Zeichner Clément Oubrerie das Leben der Tänzerin Isadora Duncan. Sie entwickelte ihren eigenen Tanzstil und gilt als Wegbereiterin des modernen Ausdruckstanzes. Sie begann zu klassischer Konzertmusik zu tanzen und wollte auch den Tanz der Antike wiederaufleben lassen.

 

Wilde Katzen, Könige der Lüfte sowie kleine und große Helden

National Geographic-Fotograf Michael „Nick“ Nichols­ gilt als jener Fotograf, der die Tierfotografie zu dem gemacht hat, was sie heute ist. In „Wild“ (Edition Lammerhuber) sind die besten Fotogra­fien des Tierfotografen zusammengetragen. Dieser hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Landschaften und Kreaturen dieses Planeten mit seiner Kamera zu würdigen.

Ein Faible für wilde Tiere hatte auch Johann Wolfgang Goethe. 1784 war er auf der Suche nach Elefanten, da er sich mit deren Knochenbau beschäftigen wollte. Mit aufwendigen Zeichnungen fasste er seine Untersuchungen an Elefantenschädeln und deren Ergebnisse zusammen und brachte eine neue Perspektive auf die Entwicklungsgeschichte. Oliver Matuschek begab sich für „Goethes Elefanten“ (Insel) in Naturkundemuseen und dokumentiert die Entdeckungsreise des Dichters und Naturforschers detailliert und mit zahlreichen Abbildungen.

Auch Johann Friedrich Naumann lebte in einer Zeit des naturwissenschaftlichen Umbruchs und gilt als der größte Ornithologe Deutschlands seiner Zeit. Er illustrierte Deutschlands Vögel und stach sie selbst in Kupfer. Die schönsten seiner Vorlagen in Aquarell sind in „Die Vögel Mitteleuropas­“ (Die Andere Bibliothek) gesammelt.

Vom Jäger zum Gejagten: „Thank You, Mouse!“ (Edition Lammerhuber) sagt Dank an ein Lebewesen, das die Menschheit weiter gebracht hat als jedes andere (und mit Menschen 99 Prozent der Gene teilt). Die Rede ist von der Labormaus, der besten Freundin des Menschen. Heidi und Hans-Jürgen Koch haben mit ihren Fotografien den kleinen Helden ein Denkmal gesetzt.

Wir schreiben das Jahr 2151. Nur ein Zehntel der Weltbevölkerung hat die Klimaschäden überlebt. Diese Menschen sind auf sieben städtische Gebiete gruppiert, außerhalb breitet sich die Wildnis frei aus. Simone ist Astronautin und Teil der Weltraummission „Soon“, einer Fahrt ohne Wiederkehr. Vor ihrer Abreise macht sie mit ihrem Sohn Youri eine letzte Reise. In „Soon“ (carlsen) nehmen Thomas Cadène und Benjamin Adam die Lesenden mit in eine dystopische und düstere Zukunft.

 

Eine Klimapiratin, ein Kaninchen und ein unheimliches Haus

Ist es den Erwachsenen egal, was mit der Welt passiert? Dieser Frage geht Michael Rohrer in „Nicht egal!“ (Luftschacht) auf den Grund. Im Mittelpunkt des Bilderbuchs steht Flora, die Klimapiratin. Kurz vor ihrem neunten Geburtstag erstellt sie eine Geburtstagswunschliste und macht sich auf die Suche nach Gleichgesinnten. Sie schart eine ganze Bande an Klimapiratinnen und -piraten um sich, die so manches bewegen kann. Mit kräftigen Farben und starken Zeichnungen verleiht Rohrer einer der größten Herausforderungen der Menschheit Nachdruck.

Das Kaninchen Sweety und Jacominus verabreden sich am Hafen. Um Punkt zwölf soll Sweety dort sein. Doch von ihrem Zuhause ist es ein langer Weg zum Hafen, wo Jacominus Gainsborough  kurz davor ist, ein Schiff zu besteigen. Sweety läuft über ­Wiesen, durch einen Zirkus, trifft neue Freunde und zieht an Marktständen vorbei. In der Ferne kann sie Jacominus schon erspähen – aber wird sie noch rechtzeitig ankommen? Rébecca Dautremer nimmt die Lesenden in „Punkt 12“ (Insel) auf über 200 kunstvoll gestalteten und ausgestanzten ­Seiten mit auf die Reise von Sweety, dem ­Kaninchen.

Paul Smith wurde von seinen beiden Stofftieren zum Schreiben des Buchs „Die Abenteuer von Moose & Mr Brown“ (Kein & Aber) inspiriert. Sam Usher illustrierte die Geschichte von Moose und Mr. Brown, die sich im Flugzeug auf dem Weg nach London treffen und ins Gespräch kommen. Denn Moose hat ein Problem: Sein Zwillingsbruder Monty ist ins falsche Flugzeug gestiegen, wo genau dieses hingeht, weiß er allerdings nicht. Mr. Brown bietet ihm an, ihm zu helfen, und die beiden machen sich auf den Weg um die ganze Welt.

Von der großen weiten Welt geht es an den Rand einer kleinen Stadt, ans Ende der allerletzten Straße. Dort steht ein unheimliches Haus, über dessen Bewohner, Herrn Pasternak, weiß niemand etwas. Gegenüber wohnt Anabel, und als ihr Kater und ihr Bruder in das Kellerfenster von Herrn Pasternak kriechen, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die beiden aus dem unheimlichen Haus zu retten. Hinter den Türen des Hauses verbirgt sich eine völlig fremde Welt, mit Kekssträuchern und Käsesemmeln aus dem Einmachglas. Die von Rosemarie Eichinger beschriebenen Merkwürdigkeiten hat Thomas Kriebaum in „Das unheimliche Haus des Herrn Pasternak“ (Luftschacht) bebildert.

7.10.2020

 

Die schönsten Bücher Österreichs 2019. Foto (c) Michael Goldgruber/BMKÖS
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