Anzeiger 1/2021 – Frischer Wind

Der Bücherfrühling bringt frischen Wind: Nicht nur Sachbücher über die Pandemie, sondern auch große Liebesgeschichten, revolutionäre Ideen und Hochaktuelles. Zumindest das Frühlingsprogramm der Bücherwelt scheint unseren Ansprüchen in diesem Jahr gerecht zu werden.

Text: Hannah Lea Jutz

Aktuelles: Corona, Moria und schwarze Panther

September 2020. Das größte Flüchtlingslager Europas brennt. Wenige Wochen nach dem verheerenden Brand macht sich der Schriftsteller Anselm Oelze auf den Weg zur griechischen Insel Lesbos, um sich von der aktuellen Situation in Moria selbst ein Bild zu machen. In „Grenzen des Glücks“ (Schöffling & Co) schildert Oelze den Ausnahmezustand an Europas Grenzen. Ein eindringlicher Bericht – und gleichzeitig eine feinfühlige Reflexion, die unsere Privilegien und unsere Verantwortung hinterfragt.

In einer ungewissen Welt gibt es immer mehr Menschen, die nach einer Heimat suchen. Doch das herkömmliche Verständnis vom Heimatbegriff scheint überholt. Längst ist Heimat etwas, das mehr ist als nur ein Ort. Und etwas, das auf viele verschiedene Arten gefunden werden kann. Wilhelm Schmid schreibt in „Heimat finden“ (Suhrkamp) von Heimatlosigkeit, Globalisierung und davon, wie sehr die Bedeutung von Heimat sich verändert hat.

Mit dem ersten Corona-bedingten Lockdown im Frühling entschleunigte sich das Leben, und viele hatten plötzlich mehr Zeit, beispielsweise zum Lesen. Marica Bodrožić nutzte ihre gewonnene Zeit auf spezielle Art und Weise: Zwei Monate lang las sie auf ihrem Balkon jeden Abend Rilkes Gedicht „Der Panther“. In „Pantherzeit“ (Otto Müller Verlag) schreibt sie über den unumgänglichen Wunsch des Menschen, in Freiheit zu leben, und geht der Frage auf den Grund, was wir tun können, wenn wir gar nichts mehr tun können. Ein Essay über innere Landschaften, über Nähe und Liebe, über Langsamkeit und über die Verwandlungen des Lebens.

Immer mehr Menschen fühlen sich einsam. Soziale Isolation ist zwar nicht erst seit Corona ein Thema, durch Kontaktbeschränkungen und Homeoffice jedoch deutlich schlimmer geworden. Auch die Digitalisierung und die sozialen Medien treiben die kollektive Einsamkeit zuweilen weiter an. In „Die neue Einsamkeit“ (Hoffmann und Campe) schreiben Diana Kinnert und Marc Bielefeld von den riskanten Folgen der Einsamkeit, von zersplitterten Gesellschaften und einer bedrohten Demokratie. Gleichzeitig ist das Buch ein Appell, unsere kapitalistische Gesellschaft zu überdenken und herauszufinden, wie wir in Zukunft Individualität und gesellschaftliches Miteinander vereinbaren können.

„Die letzte Kolonie“ (Septime) ist dystopischer Abenteuerroman, philosophischer Thriller und Gedankenexperiment zugleich: Markus Burundi erzählt von der letzten menschlichen Kolonie, die in einer Welt, gezeichnet von Kapitalismus, Umweltschäden und Pandemien, vor sich hindämmert. In dieser dystopischen Zukunft sind die Menschen in eine Unter- und Oberwelt unterteilt. Doch was passiert, wenn die Unteren nach oben streben und die Oberen nach unten expandieren wollen?

 

Von Viren und Lockdowns und Seifenspendern

„Virus“ (ecowin) von Wissenschaftsautor Matthias Eckoldt erzählt die Geschichte einer der kleinsten Lebenseinheiten und dessen Entwicklung. Angefangen von den Spekulationen der Antike und waghalsigen Selbstversuchen bis hin zu den Laborverfahren der Gegenwart und drohenden Zukunftsszenarien, veranschaulicht Eckoldt in seinem Buch die Geschichte des Virus und seiner Erforschung. Dabei wird deutlich, dass Pande­mien den immergleichen düsteren Ablauf zeigen. Ein hochspannendes und gleichzeitig allgemein verständliches Wissenschaftsbuch.

Seit Beginn der Coronakrise hat sich unser Alltag grundlegend verändert. Besonders betroffen davon sind zwischenmenschliche Interaktionen und unsere Beziehungen. Was einst normal war, scheint in Zeiten einer Pandemie unvorstellbar. Verschiedene Regeln schränken unsere Freiheit massiv ein. Die Corona-Pandemie gestaltet sich zunehmend als Stresstest für Gesellschaften und die Demokratie. Robert Misik schreibt in „Die neue (Ab)normalität“ (Picus) über das verrückte Leben während einer Pandemie, und über das, was danach kommen könnte.

Dass soziale Medien süchtig machen, ist nichts Neues. Der Druck, immer up to date zu sein, fesselt uns an die Bildschirme und bringt uns dazu, unseren gesellschaftlichen Wert an unserem Auftreten in Social Media festzumachen. Die Künstlerin und Kritikerin Jenny Odell zeigt in „Nichts tun“ (C. H. Beck), wie es anders geht und wie wichtig es ist, in unserer Freizeit nichts zu tun. Nur so können wir ein sinnvolles und nachhaltiges Verständnis von Glück und Fortschritt entwickeln. Ein aufrüttelndes Buch abseits von plumper Technikkritik und sozialromantischen Vorstellungen von der Rückkehr zur Natur.

Die Allgegenwärtigkeit digitaler Technologien und Kommunikationsmittel setzt den Menschen stark unter Stress. Informationsfluten überschütten uns täglich mit Unmengen an Inhalten, die wir in so kurzer Zeit gar nicht verarbeiten können. Aber auch die neuen Arbeitsweisen und Überwachungsmöglichkeiten überfordern viele – die Folge sind Angst, Stress und negative Auswirkungen auf Gesundheit, Wohlbefinden und Produktivität. In „Digitaler Stress“ (Linde) stellt Technostressforscher René Riedl Studienergebnisse und Praxisberichte vor und zeigt, welche Bewältigungsstrategien gegen digitalen Stress helfen.

Betty Andover. So heißt das Alter Ego der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz. Betty befindet sich im Lockdown und möchte keine Dehnübungen machen. Sie fühlt sich wie eine eingesperrte Tigerin und sitzt trotzdem die meiste Zeit. Sie ist süchtig nach Nachrichten und schaut alle fünf Minuten nach, ob es eine neue Mail gibt. Betty, die Heldin im Roman „So ist die Welt geworden­“ (bahoe books), durchlebt mehr als dreißig Episoden, die verschiedene Stadien der emotionalen und physischen Krisen in einer Welt im Stillstand darstellen. Streeruwitz analysiert dabei die Auswirkungen des Lockdowns und der Pandemie auf Gesellschaft, Kunst und Politik.

Während der Coronakrise gelangten sie zu neuem Ruhm: die Seifenspender. „Daily Soap“ (Luftschacht) von Pascale Osterwalder erzählt aus dem Leben eines solchen Spenders. Denn Seifenspender, sensible Wesen, sind dem Druck, der tagtäglich auf sie ausgeübt wird, oft nicht gewachsen. Die permanente Angst, nicht mehr aufgefüllt zu werden, treibt sie in die Depression und einen Zustand innerer Leere, der durch die erhöhten Hygieneansprüche während einer Pandemie noch zunimmt. Ein Comic über problematische Arbeitsbedingungen, soziale Isolation und auseinandergerissene Freundschaften.

 

Romantik, Selbst- sowie Nächstenliebe und Treue

Sie sind von den Ausgangsbeschränkungen besonders betroffen: die Singles. Denn neue Menschen kennenlernen und daten ist während einer Pandemie nur bedingt möglich. Abhilfe schafft Tinder. Hier haben sich Corinna und David kennengelernt und bei David zuhause getroffen. David ist Musiklehrer und Veganer. Corinna ist Kellnerin, trinkt, raucht und liebt Junkfood. Die beiden haben also praktisch nichts gemeinsam, außer einer zusammen verbrachten Nacht und einer Kontaktperson. Denn der Bote, der ihnen die Pizza gebracht hat, war mit dem Virus infiziert. „Das Vierzehn-Tage-Date“ (Zsolnay) von René Freund begleitet die beiden während der zwei Wochen langen Quarantäne, die sie gemeinsam verbringen.

„Männer ohne Möbel“ (Jung und Jung) heißt Alexandra Stahls Buch, weil die Männer im Leben der Pro­tagonistin Ellie Angst vor Restaurants haben, Erdbeermilch trinken und auf Matratzen ohne Bettgestell schlafen. Ellie sucht jemanden, der an sie denkt, wenn sie nicht da ist, und nicht jemanden wie den esoterischen Argentinier Alvaro, der sie ohne Erklärung nach einem halben Jahr verlässt. Und auch nicht jemanden, der sich für Marlon Brando hält. Ellie beschließt jedenfalls, einen Schreibkurs an der Volkshochschule zu belegen, und lernt dort, sich selbst als Romanfigur zu betrachten und aus ihrem eigenen Leben ein Lieblingsbuch zu machen.

Mathilde ist eine junge Französin aus dem Elsass. Am Ende des Zweiten Weltkriegs verliebt sie sich in Amine Belhaj, einen marokkanischen Offizier im Dienst der französischen Armee. Die beiden beschließen zu heiraten und in der Nähe von Meknès, am Fuß des Atlas-Gebirges, ein neues Leben aufzubauen. Auf dem abgelegenen Hof, den Amine von seinem Vater geerbt hat, versucht er, dem steinigen Boden einen Ertrag abzugewinnen, während Mathilde die Kinder großzieht. In „Das Land der Anderen“ (Luchterhand) schreibt Leila Slimani von Alltagsrassismus, patriarchalen Traditionen, hohen Erwartungen und einer ernüchternden Realität.

Kann ein Mensch allein genug für einen anderen sein? Ihr Freund hat ein Stück Land gekauft, will ein Haus bauen. Nur für sie beide. Eine kleine Welt zu zweit. Doch was, wenn sie das nicht will? Katharina Schaller erzählt in „Unter Wasser flimmern“ (Haymon) von dem, was zwischen uns liegt. Von Freundschaften, Familie, Beziehungen und Liebe. Von Körpern und Schweißtröpfchen auf der Haut, wenn sich zwei Menschen ganz nah sind und nichts mehr zwischen ihnen Platz zu haben scheint – außer vielleicht ein ganzer Ozean.

Carlo, Dozent für literarisches Schreiben, wurde mit seiner Studentin Sofia auf der Universitätstoilette gesehen. Carlo beteuert dem Rektor, seiner Frau Margherita und den Kollegen, dass der Studentin nur übel gewesen sei, er habe ihr lediglich geholfen. Also alles nur ein Missverständnis? „Treue“ (Wagenbach) von Marco Missiroli erkundet die Sehnsüchte, Fluchten und Ängste von Margherita und Carlo und begleitetet sie beim Versuch, dem jeweils anderen treu zu bleiben. Doch heißt Treue wirklich, jeder Versuchung zu widerstehen? Auch wenn das bedeutet, sich selbst zu betrügen?

 

Schwesternschaft, Minsk, Jeanne d’Arc und Südkorea

Audre Lorde ist Dichterin, revolutionäre Denkerin, Ikone des Schwarzen Feminismus und hat maßgeblich zur Entstehung der afrodeutschen Bewegung beigetragen. Als Feministin, Schwarze Frau in einer weißen akademischen Welt und lesbische Mutter weiß sie, was es bedeutet, eine Außenseiterin zu sein. Ihr Schaffen widmete sie deshalb dem Kampf gegen Unterdrückung und der Stärkung von Verschiedenheit und Schwesternschaft. In „Sister Outsider“ (Hanser) schreibt sie über Rassismus, das Patriarchat und Klasse und gibt Antworten auf die wichtigen Fragen der Gegenwart.

In „Camel Travel“ (Droschl) erzählt Autorin Volha Hapeyeva vom Großwerden im Minsk der 1980er und 1990er. Die Erzählerin hat erfahren, wie es ist, Kindheit und Jugend in der zerfallenden UdSSR zu verbringen, und wie es ist, in einem Land aufzuwachsen, in dem es an allem fehlt. Der autobiografisch gefärbte Roman erzählt von kleinen und großen Themen, die in Schule, Familie und öffentlich ausgefochten werden, und begleitet die Erzählerin dabei, wie sie zu einer kritischen und feministisch-politischen Frau im heutigen Belarus wird.

In „Der Berg“ (Folio) von Ivica Prtenjača verlässt ein Mann aus der Kunst- und Verlagsszene seinen bürgerlichen Alltag, lässt Werbekampagnen und Vernissagen hinter sich, um seinen Sommer auf einer kleinen Adriainsel zu verbringen. In einem Wachturm arbeitet er als Brandwächter – ein zugelaufener Hund und ein schwacher Esel leisten ihm Gesellschaft. Die Monate in der Isolation, gelegentlich unterbrochen von Pilgern, Bikern und verlorenen Seelen, verändern sein Leben grundlegend, und er durchläuft einen tieferen inneren Wandel.

Johanna wächst in einem kleinen französischen Dorf auf. Als kleines Mädchen beginnt sie, Visionen zu haben, die immer stärker werden, bis Johanna dem Fanatismus verfällt. Die junge Frau weiß, dass sie dem traditionellen Frauenbild nicht entsprechen kann und will, und beschließt, in den Krieg zu ziehen. Doch bevor es so weit kommt, gerät sie in einen Strudel aus Hinterlist und Verrat. In „1431“ (Czernin) erzählt Sophie Reyer die Geschichte von Johanna von Orléans, Märtyrerin und französische Nationalheldin, die 1431 in Rouen hingerichtet wurde.

Kim Jiyoung lebt in einer kleinen Wohnung am Rande von Seoul. Ihr Leben ist geprägt von Unterwerfung und Überwachung – immer von männlichen Figuren aus ihrem Umfeld. Vor Kurzem hat sie ihren Job aufgegeben, um sich um ihr Kind zu kümmern. So wird es auch von ihr erwartet. Was nicht erwartet wird, sind die Symptome, mit denen die Mitdreißigerin plötzlich kämpft: Ihre Persönlichkeit beginnt sich aufzuspalten, sie entwickelt eine Psychose. Cho Nam-joo hat mit „Kim Jiyoung, geboren 1982“ (Kiepenheuer & Witsch) nicht nur einen internationalen Bestseller geschrieben, sondern mit ihren Worten Massenproteste in ganz Südkorea ausgelöst.

Sachbücher: Solidarität, Klima und Genderpolitik

Zur Revolution ruft Elisabeth Lechner in „Riot, don’t diet!“ (Kremayr & Scheriau) auf. Haarige Beine, dicke Schenkel oder Falten: Wer in unserer Gesellschaft nicht der Norm entspricht, nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden kann und möchte oder Person of Color ist, wird ausgeschlossen, hat es schwerer auf dem Jobmarkt und erfährt zuweilen auch physische oder psychische Gewalt. Lechner hat für ihr Buch Aktivist*innen getroffen und legt nun einen Fünf-Punkte-Plan vor, wie echte Solidarität aussehen kann und wie wir alle unseren Begriff von Schönheit hinterfragen können.

Wie geht es unserem Planeten wirklich? Mit dieser Frage beschäftigt sich „Der Zustand der Welt“ (Terra Mater) des Biologen und Wissenschaftsjournalisten Kurt de Swaaf. Er hält fest, wie es um die Biodiversität steht, wie es unseren Ökosystemen und deren Lebewesen geht, was die Erde schon verloren hat, und was kurz davorsteht, verloren zu gehen. Obgleich das Buch ein düsteres Bild vom Zustand der Welt zeichnet, betont der Autor, dass es noch nicht zu spät ist und dass man die Uhr zurückdrehen könnte – wenn man nur will.

Emilia Roig ist Politologin, Aktivistin und eine der gefragtesten Expert*innen, wenn es um die Themen Rassismus, Feminismus, Vielfalt und Inklusion geht. In „Why We Matter“ (Aufbau) erklärt sie, wie wir unsere Privilegien erkennen, wie Weiße die Realität von Schwarzen und wie männliche Muslime die von weißen Frauen sehen können. Und umgekehrt. Sie beschreibt – auch anhand der eigenen Familiengeschichte –, wie sich Rassismus im Alltag mit anderen Arten der Diskriminierung überschneidet. Und wie anders unsere Welt aussehen könnte.

„Zart und frei“ (Matthes und Seitz) von Carolin Wiedemann ist eine radikale Analyse der Gewalt heutiger patriarchaler Gesellschaften und eine Anstiftung zum rebellischen, aber zärtlichen Miteinander. Denn kaum ein Thema ist so kon­trovers diskutiert wie die Genderpolitik. Vom Spott über das Gendersternchen bis zu Manifesten von Rechtsradikalen zeigt das Buch, dass der antifeministische Diskurs ein zentrales Element des politischen Rechtsrucks ist, aber auch bei den Linken Sympathisanten findet.

Willkommen im Unruhestand! In „Ich muss fast nichts und darf fast alles“ (Anton Pustet) beschreibt Richard Kaan humorvoll und unterhaltsam seine Haltung zu „leben“, „lernen“, „laufen“, „lachen“, „lieben“, „lösen“ und „lehren“. Der richtige Umgang mit dem Alter und dem Älterwerden will gelernt sein. Denn Älterwerden bedeutet auf keinen Fall, dass man sich vom Leben zurückziehen soll. Ein heiterer Zugang, eine sinnvolle Beschäftigung und Wahrgenommen-Werden schaffen Glück im Alter.

 

 

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