anzeiger 1/2022 – Der kosmopolitische Krimiautor

Heute ist Europas Kultur zum bloßen „Erbe“ verkommen, sagt der griechische Autor Petros Markaris. Das einzige Bindeglied zwischen europäischen Staaten sei das Finanzsystem. Dessen Korruption und jener der Gesellschaft geht er in seinen Kriminalromanen nach.

Der griechische Schriftsteller Petros Markaris wurde 1937 als Sohn eines Armeniers und einer Griechin in Istanbul geboren. Anfang der 1960er-Jahre studierte er in Wien Volkswirtschaft. Er verfasste Theaterstücke, lancierte die griechische TV-Krimiserie „Anatomie eines Verbrechens“ und war Co-Autor des Filmemachers Theo Angelopoulos. Markaris übersetzte auch, etwa Goethes „Faust“ (I,II) oder  Bertolt Brechts „Mutter Courage“. Seine 2008 erschienene Autobiographie trägt den Titel „Wiederholungstäter. Ein Leben zwischen Istanbul, Wien und Athen“. Seit 1995 veröffentlicht er im Diogenes-Verlag Romane über den griechischen Kommissar Kostas-Charitos – bislang dreizehn. Den jüngsten, „Das Lied des Geldes“ präsentierte der heute vierundachtzigjährige Autor kürzlich in der Wiener Hauptbibliothek.

Interview: Erich Klein

Herr Markaris, letztes Jahr wurde 200 Jahre griechischer Freiheitskampf und Aufstand gegen das osmanische Imperium gefeiert. Hat das für heutige Griechen noch immer Bedeutung?

Petros Markaris: Laut neueren Untersuchungen von griechischen wie englischen Historikern hatte der Aufstand der Griechen gegen das osmanische Reich und der Kampf für einen selbständigen Staat Modellcharakter für viele in Europa. Griechenland wurde in diesem Kampf von allen Seiten unterstützt, Engländern, Franzosen und dem zaristischen Russland. Griechenland liegt am Balkan und gilt als das europäische Land an sich. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg, von den Alliierten unterstützt, war es das einzige westorientierte Land in dieser Region. In allen anderen Ländern herrschte der sogenannte real existierende Sozialismus. Von Anfang an war die Gründung des griechischen Staates als Königreich aus dem osmanischen Reich für Europäer wünschenswert.

Würden Sie ein historischer Roman über diese Zeit interessieren?

Markaris: Nein. Ich bin keiner, der historische Romane schreibt. Ich brauche Gegenwart! Mich interessieren Situationen oder Probleme, die gerade in Bewegung sind. Ich will nicht erst danach schreiben, das mache ich nicht. Tag für Tag gibt es Tragödien. Bevor sie zu ihrem Abschluss kommen, schreibe ich lieber einen Krimi. Was mich interessiert, sind die Gründe einer Tragödie. Ihr Ausgang kümmert mich weniger.

Wie verhält es sich mit der klassischen Literatur des alten Griechenland?

Markaris: Ich lese sie natürlich, aber ich bin in der deutschen Literatur mehr zu Hause als in der altgriechischen. Ich sage nicht jener der Griechen, sondern der alten Griechen. Ich kenne die deutsche Klassik weitaus besser als die griechische Antike (lacht).

Sie wurden in Istanbul als Kind eines Armeniers und einer Griechin geboren – in welcher Sprache waren die Bücher ihre Kindheit geschrieben?

Markaris: Meine Muttersprache ist Griechisch. Mein Vater hatte eine griechische Schule besucht. Seine Familie hatte armenische Wurzeln, war jedoch vollständig gräzisiert. Armenisch habe ich nie gelernt. Türkisch schon. Was ich damals gelesen habe, weiß ich nicht mehr. Vermutlich waren es griechische Bücher. Während der Gymnasialzeit las ich sehr viel türkische Literatur, dann kam die deutsche dazu, vor allem deutsche Klassik. Als ich Istanbul verließ, war ich dreisprachig. Ich schrieb und sprach Griechisch, Türkisch und Deutsch perfekt.

Dann sind Sie auch ein wenig Türke?

Markaris: Natürlich bin ich das nicht! Ganz im Gegenteil. Ich bin in der Türkei in einer Stadt mit einem sehr aggressiven Nationalismus aufgewachsen, und das ist einer der Gründe, warum ich jeden Nationalismus so sehr hasse. Damals hieß es dort: Entweder du bist Türke, oder du bist gar nichts.

Sie sprechen türkisch, und pflegen auch Kontakte …

Markaris: Na gut, aber ich spreche auch Deutsch, trotzdem bin ich kein Deutscher. Was die Türken betrifft, so schätze ich viel türkische Autoren, habe auch eine Reihe Freunde dort – und spreche Türkisch noch immer fließend.

Wie kamen Sie an die österreichische Schule in Istanbul, das St. Georgs-Kolleg?

Markaris: Das war eine Entscheidung meines Vaters. Damals hatte gerade das deutsche Wirtschaftswunder begonnen, und mein Vater war davon überzeugt, dass Deutsch zur internationalen Unternehmersprache avancieren würde. Er wollte auch, dass ich seine Handelsfirma übernehme, also sollte ich Deutsch lernen. Später kam dann alles anders. Deutsch wurde nicht zur internationalen Unternehmersprache, auch habe ich Vaters Firma nicht übernommen, aber immerhin Deutsch gelernt (lacht).

Sie kamen aus Istanbul zum Studium nach Wien. Ist die Entscheidung zu schreiben hier gefallen?

Markaris: Daran waren tatsächlich das Burgtheater und andere Theater Wiens schuld. Später auch meine Bekanntschaft mit dem Berliner Ensemble und den Stücken von Bertolt Brecht. Nach dem Studium in Griechenland zurück, bemerkte ich, dass viele deutsche Autoren, Brecht inbegriffen, aus dem Französischen ins Griechische übersetzt wurden. Ich begann aus dem Deutschen zu übersetzen – mein Durchbruch am griechischen Theater. Gleichzeitig fing ich auch an, eigene Stücke zu schreiben.

Und der Sohn aus bürgerlichem Haus wurden zu einem linken Schriftsteller …

Markaris: Es kommen nicht alle Linken aus Armenvierteln! Außerdem war die damalige griechische Linke eine äußerst seriöse Partei. Das waren Politiker, die im Bürgerkrieg ziemlich viel mitgemacht hatten, aber dann sehr klug agierten. Ohne Zweifel spielt bei mir auch Brecht eine gewisse Rolle. Als ich Mitte der 1960er-Jahre nach Griechenland kam, war das Land noch ausgesprochen arm – also ging ich zur Linken.

Mit der Sie später gebrochen haben – in Ihrem neuen Roman wird sie zu Grabe getragen …

Markaris: Ich habe ich mit der Linken 1981 gebrochen, als die sozialdemokratische PASOK zur Regierungspartei wurde. Aber das war nicht die Hauptsache. Der Hauptgrund war, dass ich merkte, dass die Linke langsam aber sicher zu einer Systempartei mutierte – für mich und meine Generation schwer zu verstehen.

Sie wollte an die Macht – was soll daran schlecht sein?

Markaris: Mein Freund Andrea Camilleri, italienischer Autor und Mitglied der Kommunistischen Partei, erzählte mir vom Chef der italienischen Kommunisten Togliatti. Der habe zu seinen Genossen gesagt: „Genossen, wir sind keine Regierungspartei, wir sind eine Partei der Mobilisierung des Protestes der unteren Schichten, die unteren Schichten sollen mehr bekommen.“ Während meiner Zeit in Griechenland war das auch so auch. Die Linksparteien waren gegen das System und nicht Teil des Systems – das ist der große Unterschied!

Worin besteht der Zusammenhang zwischen dieser politischen Überzeugung und Ihren Krimis?

Markaris: Mich haben die gesellschaftliche Realität und die Kritik der Gesellschaft schon immer interessiert. Das sieht man an meinen drei Bühnenstücken und auch an meiner Zusammenarbeit mit dem Regisseur Theo Angelopoulos. Mit den Krimis kam noch etwas anderes dazu: Damit bekam ich die Gelegenheit, unmittelbar über die Gegenwart, deren Probleme und deren Entwicklung, zu schreiben.

Ein zentrales Motiv in Ihren Krimis ist Korruption als Schattenseite der internationalen Finanzsysteme …

Markaris: Ich habe vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung in Ferrara, bei der es um Politik, Gesellschaft und Kultur ging, fast unabsichtlich einen Skandal ausgelöst. Ich stellte der vorsitzenden Dame der Stiftung für europäisches Kulturerbe die Frage, ob die Kultur schon tot sei, es werde ja nur noch von Erbe geredet. Sie war äußerst empört. Meine Meinung ist folgende: Seit der Antike war Kultur das Bindeglied der europäischen Völker. Selbst Staaten, die sich untereinander bekämpften, akzeptierten die gemeinsame Kultur. Heute ist all das zum bloßen „Kulturerbe“ verkommen. Das einzige Bindeglied zwischen europäischen Staaten ist das Finanzsystem.

Diesbezüglich hat Griechenland bitterer Erfahrungen gemacht …

Markaris: Als ich in den 1960er-Jahren nach Griechenland kam, waren die Griechen ein armes Volk, aber mit einem hohen kulturellen Niveau. Ich habe das einmal als „Kultur der Armut“ bezeichnet – Armut mit Kultur. Für mich erstaunlich, hatte ich doch zuvor Istanbul erlebt, eine Stadt der Reichen und des Mittelstands. Und dann sah ich diese armen Leute, die so bewundernswert waren: Wie sie überlebten und dabei eine Kultur der Armut erfanden, in Dichtung, Prosa, im Theater und im Film. Es war erstaunlich! Was die Griechen nicht kannten, war die Kultur des Reichtums. Sie hatten keine Ahnung, dass Reichtum auch Kultur verlangt. Die Gründe dafür liegen weit zurück: als Teil des osmanischen Reichs erlebten sie keine Aufklärung, es gab keine „französische“ Revolution, sie waren lange Zeit von den Entwicklungen Europas abgeschnitten. Später wurde ein rein fiktiver Reichtum geschaffen: Die Griechen glaubten, Geld sei da, um damit herumzuwerfen und es zu verschenken. Mit dem Beitritt Griechenlands zur damaligen EWG begann sich schleichend eine Mentalität auszubreiten, die allzu lange vorherrschte: So wie der Staat nur widerwillig bereit ist, sparsam zu wirtschaften, genauso wenig will der Durchschnittsbürger sparen.

Die Wurzeln der Korruption, die sie angeklagt haben, liegen tiefer …

Markaris: Wir haben, was man einen Rechtsstaat nennt, viel später bekommen, und viel länger in Diktaturen gelebt als die Mittel- und Nordeuropäer. Griechenland war eigentlich der letzte Staat des real existierenden Sozialismus in Europa, von der Rechten aufgebaut, weil es keine kommunistische Partei gab. Mit denselben Folgen wie im Kommunismus: Eine Anstellung im öffentlichen Dienst war ein Privileg, man hat alles vom Staat erwartet. Ich habe keine Zweifel daran, dass die Hauptschuld für die Misere des Landes bei den politischen Eliten liegt, beginnend in der Nachkriegszeit. Sie haben durch ihre Klientelmentalität das Land an den Rand des Abgrunds gebracht.Die

1960er-Jahre waren auch eine Zeit des kulturellen Aufbruches – mit Giorgos Seferis gab es etwa den ersten Literaturnobelpreisträger.

Markaris: Die Jahre von 1964 bis 1967 waren wunderbar – eine Zeit der Bekanntschaft mit vielen Autoren, Kritikern und Literaturmagazinen, es gab lebhafte Diskussionen. Dann kam die „Obristen-Diktatur“ und viele meiner Freunde mussten fliehen, um nicht auf einer Isolationsinsel im Gefängnis zu landen. Auch die ersten Jahre nach der Rückkehr der Demokratie von 1975 bis 1981/82 waren eine gute Zeit. Damals genoss das Land wirklich eine Demokratie. Es gibt sie auch heute, die Demokratie ist in Griechenland sehr gut verwurzelt, aber ich will lieber nicht von ihrer Qualität sprechen …

Sie haben während der Zeit der Obristen-Diktatur geschrieben, sind aber in die Privatwirtschaft gewechselt.

Markaris: Ich machte meine ersten Schritte als Autor, meine Stücke wurden auch gespielt, aber ich musste Geld verdienen. 1966 bekam ich die Stelle des Exportleiters einer Zementfirma, war dann in Nordafrika und im arabischen Raum tätig. Ich kenne alle nordafrikanischen und arabischen Länder mit Ausnahme von Mauretanien und Katar. Eine große Erfahrung für mich – all die Reisen und Entdeckungen.

Was hat Sie am meisten überrascht: die andere Kultur, das Nord-Süd-Gefälle, die noch größere Armut?

Markaris: Wovon sprechen Sie? In Saudi-Arabien gibt es keine Armut. Also – das hängt davon ab, wie man Armut definiert. Was mich in Bezug auf diese Region wirklich erstaunt, ist ein Islam, der heute in Großbuchstaben geschrieben wird. Es gibt dort keinen einheitlichen Islam. Zwischen Ländern mit islamischer Religion herrschen krasse Differenzen, auch wenn man in Europa oft glaubt, alles sei ein und dasselbe. Das stimmt nicht – was haben ein Marokkaner und ein Saudi gemeinsam? Gar nichts!

Wie haben Sie als Autor zum Kriminalroman gefunden?

Markaris: Ich war schon fast sechzig, als der erste Kostas-Charitos-Roman erschien. Als junger Mann hatte ich viele Krimis gelesen, hauptsächlich englische Kriminalromane von Agatha Christie oder John Dickson Carr. Kriminalromane mit Fallen für den Leser, damit der Täter nicht sofort entdeckt wird. Man kann das als Kreuzworträtselromane bezeichnen. Später las ich Georges Simenon, der mich zu den kleinen Leuten brachte – Simenon ist ein Meister ihrer Beschreibung. Von da kam ich zu den Italienern und Spaniern, zu Manuel Vázquez Montalbán, Andrea Camilleri und den Autoren dieser Generation. Mit Camilleri war ich befreundet. Sie nutzten Kriminalromane als Vehikel, um über die Gesellschaft zu sprechen. Bei Montalbán ging es oft um den Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie. Heutige Kriminalromane handeln nicht mehr unbedingt von Mord aus Eifersucht oder Erbschaftsfragen, es geht um Politik, etwa politische Verwicklungen mit dem organisierten Verbrechen, der Mafia. Mit dem Entstehen der weltweiten Netze im Geldwesen kam auch Illegales, das gemeinhin als legal gilt. Hier ist der Kriminalroman ein ideales Mittel, um die Gesellschaft zu beschreiben. Auch Klassiker wie Emile Zola oder Dostojewski haben für mich große Bedeutung – Dostojewski hat ja auch einige Kriminalfälle aufgerollt (lacht).

Die Hauptfigur Ihrer Romane entstand, als Sie genug von Kriminalfällen hatten, die Sie jahrelang in Form von Fernsehdrehbüchern abgehandelt hatten.

Markaris: Nach den Fernsehkrimis, die in Griechenland sehr erfolgreich waren, wollte ich in Pension gehen. Mein Produzent hat das einfach ignoriert (lacht). Tatsächlich tauchte mein Kommissar dann plötzlich vor meinem Schreibtisch auf, und ich wurde ihn nicht mehr los. So kam es zum ersten Roman der Serie „Hellas Channel“.

Sie haben mit Theo Angelopoulos an Drehbüchern gearbeitet. Wie wichtig war für Sie diese Kinoerfahrung?

Markaris: Sehr wichtig und sehr schön! Wir haben nicht nur eng zusammengearbeitet, wir waren bis zu seinem absurden, frühen Tod auch sehr enge Freunde. Wenn Sie meine Romane lesen und ein bisschen Ahnung von Film haben, werden Sie feststellen, dass die Kapitel in meinem Romanen nicht Kapitel im literarischen Sinn sind, sondern Plansequenzen, eine Abfolge von filmischen Einstellungen.

Ihr Kommissar Charitos ist kein Unschuldiger. Als junger Mann war in das Obristen-Regime involviert …

Markaris: Er hat damals studiert, war Student an der Polizeiakademie. Sein Vater war Gendarmerieoffizier und auf der Seite der nationalistischen Machthaber. Der Umgang mit einer diktatorischen Vergangenheit ist nirgendwo problemlos verlaufen: Auch in Deutschland ist die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg unter ganz besonderen Umständen wiedererstanden. Es gibt immer Konfrontationen: Schauen Sie, was bei den Italienern passiert! Das Gespenst von Mussolini geistert noch immer herum. Vor nicht langer Zeit war bei den Spaniern die Hölle los, als die Gräber aus der Franco-Zeit geöffnet wurden, damit die Familien ihre damals Umgekommenen wiederbekommen. Dasselbe gilt für Griechenland.

Das 20. Jahrhundert war kurz, sein Schatten ist umso länger.

Markaris: Ja, leider. Man darf nicht vergessen, dass es zwei Weltkriege gab und all das, was danach folgte. Ich meine den Kalten Krieg – die Folgen dauern immer noch an.

Petros Markaris – ein Optimist oder ein Pessimist?

Markaris: Wenn man mir diese Frage stellt, antworte ich immer mit einem Zitat von Heiner Müller, der einmal gesagt hat, Optimismus sei Mangel an Information.

Wie würden Sie die derzeitige Lage Griechenlands in klassischen Termini beschreiben?

Markaris: Griechenland, das ist eine satirische Situation mit tragischen Zügen – wegen der Pandemie.

Der nächste Roman wird schon geschrieben?

Markaris: Er ist ja schon fast fertig! Ich habe gerade mit den letzten Korrekturen begonnen.

Sie haben eine kurze Autobiographie geschrieben – mit vierundachtzig keine großen Memoiren mehr?

Markaris: Ich glaube eher nicht, mir ist das zu langweilig. Zum Abschluss soll es nur noch um mich gehen? Interessiert mich nicht. Wenn ich einen neuen Einfall habe, schreibe ich noch einen weiteren Roman.

 

 

 

(c) Regine Mosimann
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