anzeiger 10/2021 – Buch Wien 21

Stimmen zur Einstimmung auf die wichtigste Buchmesse Österreichs (10. – 14. November): der Schriftsteller und Künstler Edmund de Waal und die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler. Außerdem die wichtigsten Informationen zur Messe.

Interviews: Thomas Askan Vierich

„Ich habe mein Leben lang mit den Toten geredet“

Der Künstler und Autor Edmund de Waal tritt bei der Buch Wien 21 auf. Sein erster Roman, „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ ist im Rahmen der Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“ das Gratisbuch der Stadt Wien 2021. Kunstkeramiker und Autor von „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ sowie „Camondo. Eine Familiengeschichte in Briefen“ (beide bei Zsolnay erschienen), erzählt de Waal Teile seiner Familiengeschichte von jüdischen Menschen, die sich fast schon verzweifelt in die Gesellschaft, sei es die von Wien oder Paris, eingliedern wollten und ihre Kultur aufgesogen haben. „Lohn“ ihrer Bemühungen war der Holocaust.

Herr de Waal, was bedeutet es Ihnen, dass Ihr erster Roman für „Eine Stadt, ein Buch“ ausgewählt wurde?

Edmund de Waal – Das ist ein unfassbarer Moment: Für mich als sozusagen enteigneten Menschen, für meine Familie, die einst aus dieser Stadt geworfen wurde, der man ihr Bürgerrecht geraubt hat, ihr Familienleben, ihr Zuhause. Das ist der Kern meiner Geschichte, die ich erzähle. Jetzt ist die Familie zurück in dieser Stadt – so bewegend für mich. Ich hatte nicht geglaubt, dass das möglich ist.

Hat sich der Kreis für Sie und Ihre Familie, die Ephrussis, geschlossen?

De Waal – Ich glaube nicht an Kreise, auch nicht an Katharsis. Ich halte mich an den Wiener Jean Amery: Das Erinnern ist ein Prozess. Das hat nie ein Ende. Ich bin sehr glücklich, dass mein Vater das noch erleben kann. Aber es ist nicht zu Ende. Ich kann die Geschichte meiner Familie erzählen, das ist ein Geschenk. Dass ich eine Geschichte habe, Gegenstände, die ich berühren kann, die Häuser in Wien und Paris, Erbe der Ephrussis und Camondos, die noch stehen. So viele Familien haben das nicht.

Kennen Sie die Stolpersteine in Wien?

De Waal – Eine tolle Sache. Aber es muss weitergehen, für jede Generation aufs Neue. Mein ganzes Leben lang habe ich mit den Toten geredet. Ich bin in Kirchen, Kathedralen und mittelalterlichen Häusern aufgewachsen, mein Vater war der Dekan der Kathedrale von Canterbury. Ich habe immer in und mit der Vergangenheit gelebt. Und ich hatte das Glück, Menschen nah zu sein, die mir ihre Geschichte mitgegeben haben, meiner Großmutter Elisabeth, meinem Großonkel Iggy in Japan, der mir den Hasen und viele andere Netsukes, japanische Keramikfiguren, vererbt hat. Du brauchst Menschen, die am Ende ihres Lebens mit dir reden. Und ich war glücklich, zuzuhören.

Manchmal bekommt man den Eindruck, dass die Leute es leid sind, immer wieder erinnert zu werden. Und die Menschen, die den Holocaust erlebt haben, sterben.

De Waal – In „Camondo“ schreibe ich: Warum macht es mich so wütend, erzählt zu bekommen, dass ich aufhören soll? Warum diese Hinwendung zur Vergangenheit?! Come on! Die Erinnerung weiterzureichen ist unsere Verantwortung. Das kann man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das ist hart. Aber das ist meine Aufgabe. Ich habe die Gabe, Geschichten zu erzählen, Dinge herzustellen. Es ist nicht einfach, Bücher zu schreiben, das wissen Sie ja selbst. Das ist kein Spaziergang. Auch nicht, eine Ausstellung vorzubereiten wie die im Museum Camondo in Paris, von wo ich gerade komme.

Ihr Erzählen entzündet sich an Skulpturen, Teppichen, Bildern, an der Pracht in den Häusern Ihrer Familie. Warum sind Sie von Dingen so fasziniert?

De Waal – Das ist mein Leben. Ich begann mit fünf zu töpfern, jetzt bin ich 57 und töpfere immer noch. Meine Vorstellung der Welt ist beherrscht von der Idee, dass man ein Objekt in die Hand nehmen kann und so mit der Person in Verbindung tritt, die es gemacht hat, besessen hat, damit umgegangen ist.

Für viele Menschen ist die Vergangenheit nicht so wichtig. Zumindest sprechen sie nicht darüber.

De Waal – So viele Menschen sind einfach verstummt. Dieses Schweigen kann sehr schmerzhaft sein. Das ist auch keine speziell jüdische Angelegenheit, eher eine Generationenfrage. Mein Vater hat viele Jahre lang geschwiegen, meine Großmutter nicht.

Warum haben Sie Ihr erstes Buch geschrieben?

De Waal – Darauf habe ich eine ganz einfache Antwort: Weil mir diese Geschichte gegeben wurde. Weil ich diese Keramiksammlung geerbt habe. Ich hätte nicht sieben Jahre damit verbringen müssen, zu recherchieren und aufzuschreiben und einen Verleger zu suchen. Niemand in England wollte das verdammte Buch verlegen! Nicht schon wieder ein jüdisches Erinnerungsbuch! Aber diese Geschichte hat meine Familie wieder zusammengebracht. Am Ende hat sie auch meinen Vater zum Reden gebracht.

Sind Ihre Bücher auch etwas, was Sie den Opfern der Shoa zurückgeben?

De Waal – Ja, absolut. Es geht ums Heimkommen, darum, die Geschichten an ihren Ursprung zurückzubringen. Bei der Buchpremiere des „Hasen“ im Palast der Ephrussis in Wien sagte ich: „Wir wollen gar keine materielle Restitution. Restitution ist, die Familien zurückzubringen.“ Die Villa der Camondos in Paris ist ein Museum. Man kann da hineinspazieren, ohne auch nur zu ahnen, was da passiert ist. Dass man alle in Auschwitz umgebracht hat, Camondo, seine Frau Beatrice, seine Kinder. Obwohl er dieses Haus dem französischen Staat vermacht hatte, weil er so gern Franzose gewesen wäre. Paris ist ein Beispiel dafür, wie man KEINE Verantwortung übernimmt. In Paris gibt es keine Stolpersteine. Im Camondo-Museum hing immer eine Plakette, die auf Auschwitz hingewiesen hat. Die hat aber niemand wahrgenommen. Jetzt habe ich zur neuen Ausstellung in den Hof riesige Steinblöcke platziert. Und schöne Steinbänke, auf die man sich setzen und nachdenken kann. An diesen Steinblöcken kommt keiner vorbei. Das sind meine Stolpersteine.

Beschäftigen sich die Juden zu sehr mit der Shoa?

De Waal – Wenn man die alten Texte liest, geht es fast immer über das Exil, die Diaspora. Darüber eine Heimat zu suchen, herumzuwandern. Aber diese Texte sind voller Poesie. Die jüdische Kultur ist voller Klagen (lacht). Ein endloser Strom Lamento. Aber wissen Sie was? Es ist wundervoll traurig.

 


„Der greifbaren Wirklichkeit zugewandt“

Die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler über ihre gegenwärtige Buchlektüre, die österreichische Literatur und die Bedeutung der Buch Wien.

Frau Kaup-Hasler, welches Buch hat für Sie gerade Bedeutung – und warum?

Veronica Kaup-Hasler – Ich lese gerade zwei Bücher parallel – morgens ein Sachbuch und am Abend Belletristik. In der Früh ist es „The Rest Is Noise“ des amerikanischen Autors Alex Ross. Er ist Musikkritiker des New Yorker und versteht es, packend von der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts zu schreiben. Mit einem gewaltigen Spürsinn für geschichtliche Konstellationen kommen da – ausgehend von der beschriebenen Musik – kulturpolitische, philosophische und gesellschaftliche Zusammenhänge ins Spiel. Dieses profunde Wissen kombiniert mit einem Blick weit über den eigenen Tellerrand hinaus finde ich inspirierend. Am Abend lese ich im neuen Roman des französischen Autors Mathias Enard: „Das Jahresbankett der Totengräber“. Da verschlägt es einen blasierten Pariser Ethnologen ins dörfliche Westfrankreich. Enard kennt das Land und seine Leute und weiß sie mit viel Witz so originell wie aus dem Leben gegriffen zu beschreiben. Gleichzeitig vermittelt er sprachgewaltig spannende Einblicke in vergangene Lebenswelten.

Was erwarten Sie sich an Wirkung von österreichischer Literatur?

Kaup-Hasler – Wenn Literatur, ob österreichisch oder international, zentrale Fragen der Gegenwart verhandelt, wenn sie gesellschaftspolitische Utopien entwickelt, dann  trägt sie wesentlich zur Weiterentwicklung unserer Gemeinschaft bei. Die österreichische Literatur speziell ist sehr vielfältig, hat sich aber seit den Nachkriegsjahren als besonders widerständig und sprachmächtig erwiesen. In Heimatbeschimpfung, Misanthropie und Sprachexperiment fanden Autorinnen und Autoren Ausflüchte aus provinzieller Enge. Ambitioniert und der greifbaren Wirklichkeit zugewandt fand dann eine neue Generation große Lust am Erzählen, welches dezidiert politische Haltungen und Stellungnahmen zur Welt umfasst. So vermag uns österreichische Literatur immer wieder aufzurütteln, hält uns schonungslos den Spiegel vor, nimmt uns aber auch mit auf inspirierende Reisen durch fiktionale Welten.

Wien hat keine Stadtschreiber*in – warum?

Kaup-Hasler – In Wien gibt es zahlreiche Arten der Förderungen und Preise, um die Vielfalt in der Literatur zu garantieren. Eine Stadtschreiber*in haben wir nicht, dafür spricht Wien mit zu vielen Stimmen. So hat die Stadt Wien mit den Arbeitsstipendien jüngst ein sehr wirkungsvolles Mittel neu geschaffen, um künstlerische Produktion frei von finanziellen Zwängen zu ermöglichen: Je zwölf Autor*innen erhalten ein Jahr lang monatlich je 1.500 Euro. Damit verbunden ist auch das Commitment der Stadt, künstlerisches Schaffen als für die Gesellschaft relevante Arbeit anzuerkennen.

Was erhoffen Sie sich von der Buch Wien für den Kulturstandort Wien?

Kaup-Hasler – Die Stadt Wien hat eine lange Tradition als Buchstadt. Neben den international wahrgenommenen Festivals der Frankfurter Buchmesse und der Leipziger Buchmesse ist die Buch Wien das wichtigste Ereignis der österreichischen Buchbranche und mit vielen ausstellenden Verlagen ein Ort des Austausches. Die Kraft dieser Veranstaltung strahlt weit über die Branche hinaus aus in die Stadt und das Land. Durch ihre spezifischen Schwerpunkte und die vertretenen Verlage nimmt die Buch Wien auch einen besonderen Stellenwert in der internationalen Landschaft ein.

Was kann Politik zur Stärkung der Buch Wien im Buchmessereigen beitragen?

Kaup-Hasler – Die Stadt Wien steht hinter der Buch Wien, das wird schon allein dadurch deutlich, dass die Förderung in den vergangenen Jahren angehoben wurde. Auch die Präsenz der Politiker*innen auf der Messe selbst ist ein klares Bekenntnis zu der Bedeutung der Messe – und so freue ich mich, die Buch Wien auch heuer wieder persönlich eröffnen zu dürfen!

 


Das Programm und die wichtigsten Themen der Buch Wien 21

Die Entscheidung, die Buch Wien 2021 stattfinden zu lassen, ist ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität. Buchmenschen sind auf persönlichen Austausch angewiesen. Das weitläufige Messegelände wird mit einem durchdachten Hygienekonzept zu einem sicheren Ort für Begegnungen. Zentral dabei ist die Kontrolle der geltenden G-Regeln sowie ein umfassendes Crowd­management, das vor allem durch den Einsatz modernster Technik ermöglicht wird.

Auftakt mit Konzert

Die Halle D wird zum Ort der Begegnung. Die Eröffnungsrede hält die renommierte Philosophin Isolde Charim. Anschließend startet wie gewohnt die „Lange Nacht der Bücher“. Zu den Fixpunkten des Eröffnungsabends gehören der internationale Poetry-Slam-Wettbewerb und das Eröffnungskonzert mit Attwenger.

Stars der Szene

Neben dem britischen Bestsellerautor Edmund de Waal treten Rumena Bužarovska, Ayelet Gundar-Goshen, Eva Menasse, Nick Thorpe und österreichische Literat*innen auf. Publikumslieblinge wie Marc Elsberg, Sebastian Fitzek, Michael Niavarani, Ursula Poznanski und Eva Rossmann sorgen für Unterhaltung.
Vollständiges Literaturprogramm: buchwien.at/programm 

Neues Format: die Debatte

„Wir werden erstmals hochkarätige Podiumsdiskussionen haben“, sagt Programmleiter Günter Kaindlstorfer. „Vom Klimawandel und der rechtspopulistischen Herausforderung bis zum Aufstieg Chinas, von der kulturpolitischen Situation in Ungarn bis zu ‚Wokeness‘ und ‚Political Correctness‘.“ Mit dabei die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder, Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl oder Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani. Live von der UN-Klimakonferenz in Glasgow bringen Luisa Neubauer und Bernd Ulrich Analysen. „Wir werden interaktiver! Egal ob mitten im Geschehen oder online via Livestream – das Publikum hat erstmals die Möglichkeit, sich auch digital an den Diskussionen zu beteiligen“, freut sich Verena Müller, verantwortlich für die Gesamtleitung Programm & Veranstaltungen.
Buch Wien Debatte: buchwien.at/debatte

Kinder- und Jugendprogramm

700 m2 der Veranstaltungsfläche stehen im Zeichen des Nachwuchses. Für Familien bietet die Buch Wien am Wochenende Vorstellungen und Events zum Mitmachen für Erstleser*innen ab ca. drei Jahren bis hin zu erfahrenen Bücherwürmern. Alice Pantermüller gibt einen exklusiven Einblick in Lottas Leben, Michael Stavarič lädt in die faszinierende Welt der Kraken ein, und Thomas Brezina bringt sein Schwein Frida mit.
Kinder- und Jugendprogramm: buchwien.at/kinderbuch

Willkommen, Russland

Die Buch Wien freut sich, Russland als erstes Gastland in der Geschichte der Messe begrüßen zu dürfen. Ein architektonisch beeindruckender Stand mit Bühne und Ausstellungsfläche spiegelt die wichtigsten Publikationen der zeitgenössischen sowie klassischen russischen Literatur wider. Einer der Höhepunkte ist die Veranstaltung in der Nationalbibliothek zu Fjodor Dostojewski als Seismograf der Moderne mit Erich Klein, Dimitri Ljubinski und Vadim Polonski.
Programm: buchwien.at/gastland

Hygiene-Maßnahmen

Für Besucher gilt die 2-G-Regel: geimpft oder genesen. Kinder unter zwölf Jahren mit Antigen-Schnelltest oder PCR-Test möglich, Kinder unter sechs Jahren auch ohne Test.

 


Die Premiere der Buch Wien: Russland als erstes Gastland

„Wir hatten schon länger den Wunsch, einen Gastlandauftritt auf der Buch Wien zu etablieren“, erklärt Patrick Zöhrer, Geschäftsführer der Buch Wien. „Damit wollen wir uns als Ort des Dialogs und der Vernetzung auch für internationale Gäste positionieren.“ Auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Schwerpunkte mit unterschiedlichen Ländern. Ein Gastlandauftritt ist aber wesentlich umfassender als die bereits bekannten Schwerpunktpräsentationen. Davon hat sich nun Russland überzeugen lassen, die in diesem Jahr den ersten Gastlandauftritt seit Bestehen der Buch Wien ausrichten werden.

Entstanden ist die erste Idee zu diesem Auftritt im Rahmen des 2019 geführten Sotschi-Dialogs, ein zivilgesellschaftliches Forum mit dem Ziel, den Meinungs- und Ideenaustausch zwischen Bürger*innen und Persönlichkeiten aus den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft und Sport zu fördern. Danach folgten weitere intensive Gespräche, auch mit dem Sondergesandten für kulturelle Angelegenheiten des russischen Präsidenten, Mikhail Shvydkoy, der dazu eigens nach Wien reiste. Finanziert wird der Gastlandauftritt vom russischen Kulturministerium, das Institut für Literaturübersetzungen Moskau wurde mit der Gesamtorganisation beauftragt.

Wie „politisch“ ist das?

„Die russischen Kolleg*innen haben unsvon Anfang an in die Programmgestaltung eingebunden, unsere Perspektive war ihnen sehr wichtig. Von unserer Seite wurde mit den Expert*innen des österreichischen Außenministeriums kooperiert, die in Detailfragen eine wichtige Stütze waren. In diesem vertrauensvollen Dreiklang hat die Vorbereitung problemlos geklappt und es konnte ein ausgeglichenes Programm auf die Beine gestellt werden.“, sagt Zöhrer.

Da man für Gastlandauftritte zielgerichtet internationale Kontakte aufbauen muss und das eine gewisse Herausforderung darstellt, geht man in der Buch Wien Geschäftsführung derzeit von einem zweijährigen Rhythmus einer Gastlandpräsenz auf der Messe aus.

 

llustration: Georg Feierfeil
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