anzeiger 10/2021 – Gott bedarf unserer Barmherzigkeit

So dachte der kirchenkritische Priester und Autor Adolf Holl zu seinen Lebzeiten. Was er sonst noch dachte, findet sich in der zwölfbändigen Gesamtausgabe seiner Werke, deren erster Band gerade im Residenz Verlag erschienen ist. Das Gespräch wurde vor Holls Tod und nicht im Himmel geführt.

Interview: Erich Klein

Adolf Holl war Theologe, Schriftsteller und Fernsehmoderator. 1954 zum Priester geweiht, brachte ihn das Buch „Jesus in schlechter Gesellschaft“ 1971 in Konflikt mit der Kirchenobrigkeit. Nach Entzug der Lehrbefugnis wurde Holl 1976 auch vom Priesteramt suspendiert. Er verfasste zwei Dutzend Bücher, darunter Klassiker wie „Mystik für Anfänger“ (1977), „Die linke Hand Gottes. Biographie des Heiligen Geistes“ (1997) oder „Braunau am Ganges“ (2015). Mit „Jesus in schlechter Gesellschaft“ eröffnet der Residenz Verlag jetzt seine zwölfbändige Holl-Ausgabe. Das Gespräch wurde einige Jahre vor Holls Tod 2020 geführt.

 

Herr Holl, Sie gerieten in Konflikt mit der ­Kirchenobrigkeit – wie kam es dazu?

Adolf Holl – Ich bin nie aus der Kirche ausgetreten, gehöre noch immer dem Klerus der Erzdiözese Wien an, bin dort auch nach wie vor krankenversichert. 1973 wurde mir die kirchliche Lehrbefugnis entzogen, 1976 folgte das Verbot, die Messe zu lesen. Ich bin nach wie vor Priester und fühle mich als amtsbehinderter Kleriker sehr wohl. Der Konflikt begann mit meinen Sonntagspredigten als Kaplan der Pfarre Neulerchenfeld in Ottakring. Am Ende der Predigt folgt das „Amen“, die Leute sagen „Vergelt’s Gott.“ Ich begann die Sache kritisch zu beleuchten, predigte immer wieder über das Johannesevangelium und sagte den Leuten, Jesus war gegen die Familie, gegen die Obrigkeit, die Behörden und die Priesterschaft. Die Leute antworteten trotzdem mit: „Vergelt’s Gott.“ Als ich dasselbe in einem Buch schrieb und „Jesus in schlechter Gesellschaft“ 1971 zu einem Besteller wurde, begannen die Behörden, nervös zu werden. Kardinal König setzte zwei Kommissionen ein.

 

Wie war Ihr Verhältnis zu Kardinal König?

Holl – Ich habe immerhin zwei Reden für ihn geschrieben: die Rede vor den Nobelpreisträgern in Lindau, die ein Jahr später auf Russisch abgedruckt und von einem sowjetischen Ideologen widerlegt wurde. (lacht) Ich gestehe, darauf bin ich noch heute stolz. In einer anderen Rede ging es um die Theologie der Kommunikation, dafür durfte ich nach Amerika fahren. Das Jesus-Buch, in dem ich schrieb, die katholische Kirche könne sich nicht auf den Willen Christi berufen, war ihm zuwider. Eine Kommission im Jahre 1971 befand das Buch für „kaum noch katholisch“, eine zweite sagte, es sei „gerade noch katholisch“. 1973 erhielt ich trotzdem ein Schreiben, dass ich nicht mehr predigen und an der Universität Vorlesungen halten darf. Die zuständige Ministerin meinte, es tue ihr leid, aber das Konkordat halte eisern. Deshalb müsse sie mich von den Vorlesungen an der Fakultät für Katholische Theologie suspendieren.

 

Damals wurde doch Eintracht zwischen Rot und Schwarz gepredigt!

Holl – Was die damalige Eintracht betraf – ja, es gab die „Mariazeller Erklärung“ der österreichischen Bischöfe, in der man sich für Äquidistanz als Grundlage im Verhältnis von Kirche und Parteien aussprach. Wir werden den Leuten nicht mehr sagen, ihr müsst Schwarz wählen, hieß es. Kreisky und König schüttelten einander die Hände, und König wurde wegen eines Auftritts vor der Gewerkschaft als „roter Kardinal“ beschimpft. Ich habe aber als Kaplan in sogenannten Arbeiterbezirken, 1953 bis 1959 in Favoriten und 1959 bis 1965 in Ottakring, von all dem nichts bemerkt. Die Leute strömten nicht in die Kirche, sondern machten weiterhin das, was man am Sonntag tut – Bier trinken oder einen Ausflug machen. Ich muss schmunzeln, wenn ich daran denke, dass ich in der allgemeinen Versöhnungsbereitschaft mit meinem Buch zu einem Störenfried wurde. Kardinal König legte mir nahe, ein „klärendes Nachwort“ zu schreiben, wogegen ich natürlich bockig meinte, man solle mich widerlegen. Das geschah nebenbei in ziemlich entspannter Atmosphäre in einem Gespräch mit Prälat Ungar und Pater Zeininger, der von den Hitlerschergen zum Tod verurteilt worden war. Kardinal König fragte, wie ich eine Messe lesen wolle, wenn Jesus das nicht gewollt hat. Ich erklärte ihm meine Sicht der Dinge, worauf er meinte, ich müsste eine neue Kirche gründen, wovon wiederum ich nichts hielt.

 

Sie wurden 1930 geboren. Können Sie die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschreiben?

Holl – Als ich 1948 die Matura machte, habe ich noch geschwankt, ob ich Journalist oder Priester werden soll. Dem Priestertum hatte ich mich im Mühlviertel genähert, wohin ich während des Krieges evakuiert worden war. Es war langweilig dort, der Pfarrer fragte mich, ob ich ministrieren wolle. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, all das Rituelle hat mich bezaubert, das Gewand, der Weihrauch, die geflüsterten Worte während der heiligen Wandlung, wenn aus einer Oblate Gott wird. Ich verstand zwar nicht genau, was, aber es passierte dabei etwas Unglaubliches. Ich wollte das auch können und tun dürfen. Aus heutiger Sicht: Ich wollte zaubern dürfen. Ab 1945 ging ich fleißig in die Kirche, hatte meine Tätigkeit als „Jungzugführer“ ad acta gelegt, obwohl mir gerade diese Karriere später nützlich wurde: Eine Kommandostimme war in der Katholischen Jugend wie in der Schule gut. 1948 trat ich ins Priesterseminar ein. Damals besaß die katholische Kirche großen Elan – wir haben gesungen, Fackelzüge gemacht, die Fahnen sind geflattert, Abzeichen wurden getragen und Versprechen abgelegt. Das klang ungefähr so: „Wir sind bereit / Rufen es weit / Gott ist der Herr / einer neuen Zeit.“ Es gab die katholische Landjugend, die Mittelschuljugend, die Arbeiterjugend, „Sehen – Urteilen – Handeln“ war die Losung, später der Grundsatz der Befreiungstheologie. Im Seminar in der Bolzmanngasse 9 wohnten neunzig Mann, darunter befanden sich Kriegsteilnehmer, auch solche, die in Stalingrad gewesen waren, einer hatte Wasser in den Füßen. Was den Zölibat betraf, so meinten wir, das werden wir schon irgendwie schaffen – das war kein Thema. Wir wollten vor allem, dass in der Kirche etwas weitergeht! In jedem Jahrgang befanden sich zwanzig bis fünfundzwanzig Mann. Wir bestärkten uns gegenseitig, aufgestanden wurde um sechs Uhr morgens. Wenn wir im Talar über die Währinger Straße gingen  und uns die Leute nachschauten – das war uns egal! Wir wussten, dass wir eine Truppe des Herrn sind. In den Jahren der Seelsorge – Kardinal König sprach es immer als „Sällsorge“ mit Umlaut und Doppel-l aus – kam die Ernüchterung.

 

Warum?

Holl – Als das Wichtigste galt damals, die Stephanskirche wiederaufzubauen. Zuerst wurde ein Teil wiederhergestellt, dann konnten dort wieder Hochämter abgehalten werden, schließlich kam die Pummerin, und die Stephanskirche war so wie immer. Ich habe mich damals als junger Priester gewundert, dass man so schnell über die Geschehnisse der Hitlerei hinwegturnt. Mir war das schon damals nicht recht – man tat so, als wäre nichts geschehen. Der Stephansdom stand in alter Pracht und Herrlichkeit wieder da. Es wäre weitaus klüger gewesen, wenn man die Stephanskirche gelassen hätte, wie sie im April 1945 war. Es hätte den Leuten hie und da beim Gebet auf den Kopf geregnet, damit sie sich erinnern, dass sie 1938 die Juden mit dem Zahnbürstel das Pflaster hatten säubern lassen. Ich war mit dieser Auffassung relativ allein.

 

Die Kirche bekam zwar ein Dach, es ging aber bald keiner mehr hinein. Hängt das miteinander zusammen?

Holl – Sicher! Man kann dies natürlich auch mit einer langfristigen Entwicklung in ganz Europa seit dem 18. Jahrhundert erklären, auf den Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung hinweisen. Damit dürfen sich die Professoren zufriedengeben. Aber warum ging das so rasch? Ich glaube, der dramatische Rückgang an Kirchenbesuchen, an dogmatischer Gläubigkeit, die Frage des Priesternachwuchses, all das hat damit zu tun, dass sich der Katholizismus nicht mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat. Dafür ist er bestraft worden – von wem, lassen wir offen.

 

Von wem eigentlich?

Holl – Wenn wir mit einem Atheisten sprechen: vom Weltgeist. Wenn es kein Atheist ist, sagen wir Gott.

 

Was hält Sie noch immer bei der Religion?

Holl – Wenn mir zum Thema Religion jemals der Stoff ausgehen sollte, werde ich mich ausschließlich meiner Lebensgefährtin und meinen Katzen widmen. Aber ich sitze, wie Franz Schuh einmal sehr richtig schrieb, in der Religionsfalle. Es handelt sich um eine Obsession, ein Lebensprojekt, wobei ich eigentlich eine andere Metapher bevorzuge: Ich hänge an der Angel, an deren anderem Ende der Herr Jesus sitzt. Ich biss an und komme davon nicht mehr weg.

 

Ein Lyriker wie Celan, der immer wieder mit Gott hadert, interessiert Sie?

Holl – Ja. Kürzlich bekam ich von einer Frau aus Tirol, Mitte fünfzig, die drei Kinder großgezogen hat und in einem Altersheim arbeitet, einen langen Brief: Sie meinte, ich müsse ihr nicht antworten, es ginge nur darum, ihr Schreiben zu lesen. Sie erzählte mir, dass sie in ihrer Arbeit auch mit Klosterfrauen zu tun hat, es gab irgendeinen Konflikt, sie ging hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, und dabei erinnerte sie sich an den Spruch „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“. Ihr kam plötzlich in den Sinn, dass es dabei nicht, wie allgemein angenommen, darum geht, dass wir zur Barmherzigkeit angeleitet werden, sondern dass Gott unserer Barmherzigkeit bedarf. Sie erschrak über ihren Gedanken. Ich schrieb ihr zurück, dass dieser Gedanke auch beim Philosophen Hans Jonas zu finden ist, der ihn von einer Jüdin übernommen hat, die Folter durchgemacht und überlebt hatte. Am Schluss hatte sie den Gedanken: Gott bedarf unserer Barmherzigkeit.

 

Damit sind wir beim Kreuz in der Schule. Soll es dort hängen bleiben?

Holl – In meiner Zeit als Kaplan habe ich der Bevölkerung das Aschenkreuz auf die Stirn gemacht. Die Asche sollte aus den verbrannten Palmzweigen vom Vorjahr gewonnen werden. Sie wurde gesiebt, die Leute kamen zur Kommunionsbank, ich machte das Aschenkreuz und sagte dazu: „Du bist von Staub und wirst zu Staube werden.“ Daran knüpft sich die Erinnerung an die Grundlektion, die ein Priester beherrschen muss, bevor er sein Amt antritt, etwas, das nie verbalisiert wird. Du musst die Menschen ständig daran erinnern, dass sie sterben müssen. Dann kommen sie auch gern in die Kirche. Das weiß man als Priester einfach. Es geht immer um den Tod, um das Versagen des Körpers, der einmal schön und begehrenswert war, der Lust empfand, skilaufen ging, er wird einmal welk. Aber, sagt der Priester, die Seele ist wichtig, nicht der Körper. Das gelernt zu haben, gehört nicht zu den wirklich guten Dingen! Auch erfuhr ich, wie glücklich Menschen waren, wenn ich ihnen das Aschenkreuz machte. Merkwürdig, aber sie schauten glücklich drein. Dieses Selige – es war ja auch ein Segen – bekommen sie außer in Form des Leibes des Herrn nicht so oft. Im gesamten Abendland, im ganzen griechisch-römischen Philosophieren, haben wir keinerlei Tradition für eine eingehende und freundliche Auseinandersetzung mit unserer Endlichkeit und Körperlichkeit. Das kommt in dieser Männerphilosophie nicht vor. Das Seelenvöglein, der Geist, das Höhere, all das gibt es, aber nicht den Körper. Warum eigentlich? Er ist eine Terra incognita. Wenn ich den Körper schlecht mache, bin ich ein schlechter Christ, weil ich das Corpus Christi, die Körperlichkeit Gottes, außer Acht lasse. Wir müssen darauf achten, dass der Körper nicht mehr diffamiert wird, er gehört vielmehr angeschaut.

 

Die Kruzifix-Frage ist noch offen …

Holl – Damit habe ich mich vor einiger Zeit lächerlich gemacht. Ich wollte mich als einzelne Person, als Schriftsteller, der beim Fenster hinausschaut, gegen die Nekrophilie des Abendlandes und des abendländischen Christentums zur Wehr setzen. Seit den Kreuzzügen schaut es auf den toten Mann am Kreuz und erhofft Erlösung. Das kann doch nicht wahr sein! Die allerersten Christengenerationen dachten im Schlaf nicht daran, den toten Mann am Kreuz anzubeten. Sie haben einen Hermes oder einen Zauberer an die Wand gezeichnet, einmal sogar einen Zauberer mit einem Zauberstab. Dann kam der gute Hirte in den Katakomben, und natürlich Orpheus, der die Seelen aus dem Totenreich holt. Später stößt Jesus auf dem Thron dazu, er bekommt einen Bart, in Ravenna ist er ein Herrscher – aber er denkt nicht daran, am Kreuz zu hängen. Ich spreche von der Gefühlskultur her. Die Germanen stellen ihn aufs Kreuz, das wurde ihnen offenbar eingeredet, aber er schaut noch immer recht zufrieden drein. Er hat ein Stockerl, ein kleines Brett unter den Füßen, ist der sogenannte Vier-Nagel-Christus, der eine Krone trägt und wie ein Herrscher dreinschaut. Erst seit dem 12. Jahrhundert kommt die Bluttheologie ins Spiel – Bäche an Blut beginnen zu fließen, er hat geschlossene Augen, eigentlich ist er jetzt tot. Man muss traurig sein – Christi Mutter steht in Schmerzen da. Die Kirchen wurden wie in einem Comicstrip ausgemalt: vom Palmsonntag bis zur Kreuzigung, aber man muss lange suchen, bis man einen Auferstandenen sieht.

 

Sie haben in Ihren Büchern immer wieder auf die „liturgische Einbettung“ der Menschen hingewiesen, die in der westlichen Welt mittlerweile verloren gegangen ist. Wie verstehen Sie das wiedererwachte Interesse an Religion?

Holl – Ohne Liturgie ist die ganze Religionsdebatte eine Professorengeschichte. Allerdings wurden die Altlinken nach dem September 2001 ganz schön munter: Auch wenn es grauslich ist, dachten sie, jetzt müssen wir uns mit dem Islam auseinandersetzen, mit dem christlichen und dem jüdischen Fundamentalismus.

 

Sie lachen darüber?

Holl – Ja sicher, ich darf mich deshalb erheitern, weil all das Leute sind, die in keine Kirche und keine Moschee gehen. Auch die Islamwissenschaftler tun das nicht. Sie sind alle liturgisch abgebrannte Gestalten, gottesdienstlich unerfahren. Sie haben keine Ahnung, was es bedeutet, wenn der Pope sagt: „Chrestos Woskrese“, „Christus ist auferstanden“ – und die Leute antworten: „Wahrlich, er ist auferstanden.“ Sie haben diesbezüglich einen blinden Fleck. Wenn ich zum Beispiel das Glaubensbekenntnis „Ich glaube an den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn …“ auf meinen Schreibtisch lege und mir zu Gemüte führe, bekomme ich ständig Probleme: Ich muss mich fragen, was das denn heißen soll, „geboren aus der Jungfrau Maria“, oder „auferstanden“. Die letzten dreihundert Jahre der abendländischen Geistesgeschichte sind am Schreibtisch und nicht gottesdienstlich passiert. Die Leute haben sich gelangweilt, sie führten lieber Kriege, gingen lieber schwimmen, sie komponierten und malten Bilder – jedenfalls taten sie Dinge, die das Herz leichter machten. Verrichte ich das Glaubensbekenntnis im liturgischen Zusammenhang, dann denke ich nicht mehr an all diese wörtlichen Dinge, das ist ein ganz anderer Habitus als die Einsamkeit des kritischen Intellekts. Nehmen Sie Karl Marx, der in der British Library sitzt und vierzig Jahre an seinem Buch schreibt, und dann verfasst er noch seine Religionskritik. Sein Großvater war Rabbiner, der Gottesdienste abhielt – oder nehmen Sie Heine, und dasselbe gilt für C. G. Jung, für Sigmund Freud. Für mich sind das alles liturgisch enttäuschte Männer.

 

Robert Musil meinte einmal, das 20. Jahrhundert werde von drei Dinge dominiert: von Gott, dem Sozialismus und Sex. Was wäre Ihre Formel?

Holl – Ich bekam kürzlich eine Dissertation, in der es um Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ geht. Aus Höflichkeit und um meinen Alltag zu erheitern, habe ich das durchgeblättert. Ich kann nicht umhin, derartige Unternehmungen, die ganze Jahrtausende im Handumdrehen auf den Begriff bringen wollen, zu belächeln. Vielleicht ist das eine Alterserscheinung, für mich ist es jedenfalls komisch. Das abgelaufene Jahrhundert, das ich zum Teil erlebt habe, bietet mit den bekannten Ergebnissen jedenfalls keinen Grund zur Heiterkeit. Zum Glück war es, wie der Historiker Eric Hobsbawm meinte, das kürzeste aller Jahrhunderte, und dauert nur von 1914 bis 1989. Die sogenannten großen Erzählungen haben ausgedient, wir stehen heute auf der Bühne wie Clowns, denen die Witze ausgegangen sind. Das Publikum wird unruhig. Wie sollen wir jetzt über uns reden? Früher sprach man von „Altertum“, „Mittelalter“, „Neuzeit“, dann wurde alles schneller, wir sagten „Moderne“, schließlich „Postmoderne“. Was machen wir in den nächsten fünfzig Jahren? Wir könnten zur Abwechslung einmal sagen, wir leben in einer alternden Welt. Das ist eine Anknüpfung an den Heiligen Augustinus – die hatten damals so ein Gefühl. Das ganze Imperium war mit dem Christentum auf den Kopf gestellt worden, das Weltalter erschien als greisenhaft. Gerade in der gegenwärtigen Debatte um die sogenannte Krise fällt mir ein Begriff aus Jacob Burckhardts „Kultur der Renaissance“ ein, der von einer besten und einer sinkenden Zeit sprach. Spenglers Ausdruck „Untergang“ gefällt mir nicht, das ist viel zu pathetisch, und überdies ist sein Blick viel zu adlerartig, er fährt über alles hinweg, weiß immer alles. „Sinkende Zeit“ gefällt mir viel besser, weil es deutlich macht, dass dieses Weltsystem Abnutzungserscheinungen hat. Ich meine damit nicht, dass der höchst robuste Kapitalismus in seinen letzten Zügen liegt, für einen Historiker wäre eine solche Sichtweise lachhaft! Der Kapitalismus ist nach wie vor sehr lebhaft unterwegs, was vielmehr zutrifft, ist der Umstand, dass das Gefühl der Fortschrittlichkeit weltweit im Verblassen begriffen ist. Im Vergleich zu früheren Zeiten leben wir heute möglicherweise schon in einer Nachwelt.

18.11.2021

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