anzeiger 2/2022 – Digital Natives – die neuen Bücherwürmer?

Eine umfassende Recherche zum Leseverhalten der jüngsten und jungen Generation. Und warum der Autor Michael Stavarič das Schreiben für Kinder- und Jugendliche für die „Königsklasse der Literatur“ hält.

Text: Lisa Schöttel

„Kinder sind digital sozialisiert,“ sagt Beate Großegger, wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Jugendkulturforschung. Die neue Generation wachse mit Smartphone und Internet auf und könne sich mühelos Zugang zu aller Art von Informationen verschaffen. „Mit der Informationsflut sinkt die Aufmerksamkeitsspanne. Die Kinder und Jugendlichen haben Mühe, sich für ein Buch zu begeistern“, erklärt sie diesen Wandel in den Lesegewohnheiten.

 

Der erste Buchstabe ist das „M“ von McDonalds

In der Tat stellte man in der 2020 durchgeführten Kinder-Internet-Medien-Studie KIM, einer Basisuntersuchung zum Medienumgang der 6- bis 13-Jährigen, fest, dass das Mobiltelefon bei 65 Prozent der Kinder und Jugendlichen dieser Altersstufe fester Bestandteil ihres Alltags ist. Digitale Spiele (60 Prozent) und Internetnutzung (59 Prozent) liegen in der Freizeitgestaltung ganz vorn. Das Lesen von Büchern hingegen an elfter Stelle bei den beliebtesten Freizeitaktivitäten dieser Altersgruppe.
Trotzdem: „Kinder lesen tendenziell mehr, nur das analoge Lesen geht zurück“, beschreibt Gerhard Falschlehner, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Niederösterreich, den Trend im Leseverhalten und ergänzt: „Wenn man Kinder befragt, ob sie gern lesen, dann sagen sie eher nein und registrieren gar nicht, dass sie es in der Freizeit aber ständig tun.“ Der erste Buchstabe, den Kinder lesen, ist das „M“ von McDonalds. Aber die Anteile des Lesens im Alltag verschieben sich.

„Der Kinderalltag hat auch nur 24 Stunden. Wenn ich mir also Videos und Filme am Smartphone ansehe, kann ich in der Zeit nicht lesen“, sagt die Schweizer Leseforscherin Andrea Bertschi-Kaufmann. Das heißt aber nicht zwingend, dass insgesamt weniger Bücher gelesen werden, da der Medienanteil innerhalb der Freizeitbeschäftigungen der Kinder generell zugenommen hat, erklärt sie.

Insgesamt lag der Anteil der Kinder, die angegeben haben, Bücher zu lesen, 1998 bei 40 Prozent und pendle sich nun schon das dritte Jahr in Folge bei rund einem Drittel ein, sagt die Medienkulturwissenschaftlerin Petra Missomelius von der Universität Innsbruck. Die KIM-Studie frage explizit nach freiwilligem, selbstbestimmtem Lesen – die schulische Pflichtlektüre werde nicht erfasst, ergänzt sie. 16 Prozent der Kinder lesen täglich in einem Buch, 39 Prozent ein- oder mehrmals in der Woche. Dabei gibt es deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede: 63 Prozent der Mädchen sind regelmäßige Leser*innen, bei den Buben nur 37 Prozent. Ab dem Alter von 12 Jahren treten allerdings andere Freizeitaktivitäten und Mediennutzungen stärker in den Vordergrund.

 

Lesen als zentrales Element der frühkindlichen Beschäftigungen

Gegenüber der Studie von 2018 verzeichnet die KIM-Studie von 2020 sogar einen Anstieg von 4 Prozent beim regelmäßigen Lesen in der Altersgruppe der 6–13-Jährigen. „Das Interesse von Kindern am Lesen ist ungebrochen. Es ist ein zentrales Element der frühkindlichen-elterlichen Beschäftigung“, sagt die Medienwissenschaftlerin Missomelius. Vorlesen bildet das Kernstück. Aus einer 2021 durchgeführten Studie der deutschen Stiftung Lesen geht hervor, dass Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, früh über einen großen Wortschatz verfügen, leichter lernen und in vielen Fächern bessere Schulnoten erzielen. Dabei gehe es vor allem um den Kontakt mit der Bezugsperson und das gemeinsame Erlebnis, meint die Entwicklungspsychologin Stefanie Höhl von der Universität Wien. „Bisherige Studien zu digitalen Medien zeigen, dass Kinder dann von digitalen Inhalten profitieren, wenn sich jemand gemeinsam mit ihnen damit beschäftigt“, erklärt sie. Kinder haben wenig davon, Videos auf dem Handy passiv anzuschauen. Wenn sich dagegen eine Bezugsperson gemeinsam mit dem Kind ein digitales Kinderbuch anschaue, könne die Interaktion ebenso bereichernd sein, wie bei einem gedruckten Buch, so Höhl.

Gerhard Falschlehner war Initiator des Projekts „Family Literacy“ und erklärt: „Ob Kinder gern lesen und es auch freiwillig tun, hängt stark vom Elternhaus ab.“ Frühe Interventionen in Familien, wo das Bücherlesen keinen hohen Stellenwert habe und sprachliche Förderung im Kindergarten seien die wichtigsten Schritte, um die Lesekompetenzen und Lesemotivation zu fördern.

 

Digitalisierung als Chance für die Lesekompetenz

Die Schweizer Professorin Andrea Bertschi-Kaufmann sieht die Digitalisierung als große Chance, um die Lesebereitschaft der jungen Generation zu stärken. „Das Leseverhalten hat sich in den letzten Jahren verändert: Die Kinder lesen schnell, lesen vielerlei, und ihre Alltagskommunikation ist auf elektronische Medien konzentriert“, erklärt sie. Die Kommunikation über Sprachnachrichten, Bilder und Videos kann zur Vermeidung des Lesens führen oder es umgekehrt sogar anregen.

„Die neuen Medientechnologien sind interessant. Sie eröffnen jungen Menschen Möglichkeiten zum multimodalen Lesen und Schreiben“, sagt die emeritierte Professorin für Leseförderung. Kinder und Jugendliche können einfach und schnell selbst Bilderbücher herstellen und Fotografien beschriften. „Das sind neue Prozeduren, die dank neuer Medien möglich und für Kinder attraktiv sind“, meint Bertschi-Kaufmann.

Auch der Pädagoge Gerhard Falschlehner ist überzeugt: Wenn man von Leseförderung spricht, müssen die digitalen Medien mitgedacht werden. „Die Kinder bringen hier viel Expertise mit und sind mit grafischen Programmen und Apps oft bewanderter als die Lehrer*innen.“ Damit lassen sich im Handumdrehen Geschichten in Comics verwandeln oder Podcasts und Hörspiele aufnehmen. „Den Kindern wird so gezeigt: Lesen ist nicht passiv, sondern kann ähnlich wie ein Computerspiel sehr aktiv sein.“ Außerdem können Influencer*innen, die auf YouTube oder Instagram Büchertipps geben, ein Anstoß sein, auch einmal ein Buch in die Hand zu nehmen. Selbst in Communities, in denen Lesen kein großes Thema ist.

 

Den Kindern Zugänge zum haptischen Buch ermöglichen.

Lesen lernen funktioniere am gedruckten Papier einfach leichter, so Falschlehner. „Das Bilderbuch bleibt liegen, rennt nicht davon – sprich: Das Risiko sich abzulenken, ist geringer.“ Aus diesem Grund sei der Besitz eines Buches immer noch der beste Weg, um die junge Generation zum Lesen zu motivieren. Eine gute Möglichkeit ist der Zugang zu einer Bibliothek als Ort der haptischen Bücher. „Wenn es in der Schule eine eigenständige Schulbibliothek gibt, dann ist das Niveau im Schreiben und Lesen um eine Klasse höher, als wenn keine vorhanden ist“, erklärt Falschlehner. Sie ermögliche einen individuellen Leseunterricht und sei für die Lesedidaktik unabdingbar.

Barbara Hollendonner führt eine solche Schulbibliothek an der AHS Franklinstraße in Floridsdorf. „Wir arbeiten intensiv daran, das Angebot stets zu erweitern und die Bibliothek als Aufenthaltsort bei den Schüler*innen zu etablieren“, sagt die Bibliothekarin. „Mittlerweile ist unsere Bibliothek eine der ruhigsten und gemütlichsten Ecken der Schule.“ Ihrer Beobachtung nach kommen die Schüler*innen nicht nur, um sich Bücher auszuborgen, sondern auch, um ihre Aufgaben zu machen, in den Regalen zu schmökern, oder dem Schultrubel ein bisschen zu entkommen. Das Buchangebot an der Bibliothek richte sich vor allem nach den Wünschen ihrer Besucher*innen. Hollendonner: „Dazu bestellen wir Bücher, die wir intern Brückenbücher nennen. Diese greifen etwas Bekanntes auf, gehen aber einen Schritt weiter, erweitern den Blick und sind sprachlich eine Spur anspruchsvoller.“

Sogenannte „Aktivitätenbücher“ sind ebenfalls sehr beliebt, und lassen sich in den Räumen der Bibliothek gut ausprobieren.

Auch das Institut für Jugendliteratur ermöglicht mit der Leseförderaktion „Lesen im Park“ einen unbürokratischen Weg, Bücher mit nach Hause zu nehmen. Seit vierzig Jahren lädt die Aktion jeden Sommer Kinder im Alter von 3 bis 10 Jahren in den Park ein, wo sie sich das Buch ihrer Wahl einfach und schnell ausborgen können. „Damit wollen wir Berührungsängste abbauen und den Kindern das Buch als Spiel- und Freizeitmittel näherbringen“, erklärt Verena Weigl, die für die Vermittlung und Öffentlichkeitsarbeit am Institut zuständig ist. „Viele der Kinder sind ganz stolz darauf, dass sie sich das Buch jetzt ausgeborgt haben – das freut uns sehr.“

Die Aktion „Wiener Geschichtenteppich“ rückt wiederum den sprachspielerischen Aspekt des Lesens in den Mittelpunkt. „An öffentlichen Plätzen in Wien erkunden die Kinder zusammen mit Literaturvermittler*innen über Sprachspiele die spannende Welt der Kinderliteratur“, erklärt Weigl das Konzept.

 

Aber was lesen Kinder und Jugendliche?

„Bewegungen wie #fridaysforfuture oder #blacklivesmatter, die von jungen Menschen (mit-)getragen werden, oder in die sich Autor*innen umfassend einbringen, haben auch in der Kinder- und Jugendliteratur zu einer Art neuem Realismus und einer deutlich gesellschaftspolitischeren thematischen Ausrichtung geführt“, beschreibt Heidi Lexe, Literaturwissenschaftlerin und Leiterin der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (STUBE), den inhaltlichen Trend der vergangenen Jahre. Bemerkenswert sei in diesem Zusammenhang ein Boom an Sachbüchern, Sacherzählungen und Biografien über alle adressierten Altersstufen hinweg.

Dennoch, das Feld der Phantastik sei nach wie vor breit gefächert. „Wie eine Gegenbewegung dazu wirkt das sich immer vergrößernde, marktorientierte Angebot an leicht konsumierbarer Allerweltslektüre – schillernd aufbereitet für Mädchen (Prinzessin und Pink) und Buben (Abenteuer und Blau)“, beschreibt Heidi Lexe einen weiteren Trend. Vielfach werde aber sehr formbewusst erzählt, so die Jugendliteraturexpertin. Fragmentierungen und Hybridformen spielen dabei eine große Rolle. „Jugendromane werden illustriert oder überhaupt über Bild und Text erzählt“, so Lexe.

„Liebe, Tod, Freundschaft – die Kinder- und Jugendliteratur unterscheidet sich thematisch nicht besonders von der Erwachsenenliteratur“, teilt Verleger Jürgen Lagger vom Luftschachtverlag diese Beobachtungen. Formal solle es aber zeitgemäß sein und gegenwartsverhaftet, womit immer neue Strömungen miteinfließen.

Laut der Bibliothekarin Barbara Hollendonner sind Mangas aktuell der große Hype bei Kindern und Jugendlichen. „Neben den großen Blockbustern versuchen wir auch qualitativ hochwertige Mangas anzuschaffen.“ Jedes Jahr gäbe es auch einige Kinder, die sich – von Erich Kästner zu Astrid Lindgren – durch die Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur lesen. „Und wenn etwas verfilmt wird, dann ist das Interesse an der Romanvorlage sehr groß“, fügt Hollendonner hinzu.

 

Kinder und Jugendliche ernst nehmen

Das Besondere, an der Kinder- und Jugendliteratur sei, so Verleger Jürgen Lagger, dass die Zielgruppe der jungen Leser*innen und die Gruppe der schaffenden Autor*innen und Illustrator*innen besonders weit auseinanderklaffen. „Hier bietet man von weit außerhalb etwas an, von dem man glaubt, dass es interessiert und passt – das ist oft die Schwierigkeit.“ Grundsätzlich sei es wichtig, die jungen Leser*innen in ihrer Sicht und in ihren Fragen an die Welt ernst zu nehmen.

Autor Michael Stavarič bezeichnet das Schreiben für Kinder- und Jugendliche als die „Königsklasse der Literatur“. „Ich wurde tatsächlich gefragt, warum ich mich als ernsthafter Erwachsenenautor mit Kinderbüchern aufhalte“, erzählt er. Dabei sei das Schreiben für Kinder unerlässlich, schließlich handle es sich dabei um die Leser*innen von Erwachsenenbüchern von morgen. Gerade dort müsse sich viel Qualität, Ästhetik und Know-how vereinen. Sein Tipp: Mit der jungen Generation in Austausch bleiben.

Wie dies aber gelinge, sobald die Eltern nicht mehr das Kaufen der Bücher übernehmen, dafür hat Verleger Jürgen Lagger noch kein Rezept. „Diese Altersgruppe ist schwierig zu erreichen. Oftmals übersteigt es meine Kapazitäten, für so viele Plattformen adäquate Inhalte zu produzieren.“ Als Verlag versuche er mit einem vielfältigen Programm, von Kinder- und Jugendbuch über Comics und Belletristik und allen Dingen, die dazwischen liegen, vieles abzudecken.

Jugendforscherin Beate Großegger wünscht sich mehr Studien zur neuen Mediennutzungskultur. „Die Lesekultur der jungen Generation hat sich verändert. Lesen auf digitalen Endgeräten funktioniert anders und das Lesen als hochkulturelle Tätigkeit verliert in der außerhäuslichen Freizeit der Jugendlichen schnell an Bedeutung.“ Man müsse sich also die Frage stellen, wie Inhalte vermittelt werden können, um den jungen Menschen klarzumachen: „Ja, Lesen ist spannend.“

 

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