anzeiger 2/2022 – Was Zeit nicht aus der Welt schaffen kann

Dem widmet sich die Historikerin und Publizistin Evelyn Adunka in ihrem Werk „Meine jüdischen Autobiographien“, einer über sechshundertseitigen Enzyklopädie. Damit möchte Sie Leser*innen an die Bücher dieser Autor*innen heranführen, wie sie sagt.

Interview: Erich Klein

Die Historikerin und Publizistin Evelyn Adunka wurde 1965 in Villach geboren, studierte Philosophie, Geschichtswissenschaften und Judaistik an der Universität Wien, wo sie mit einer später auch als Buch veröffentlichten Arbeit über Friedrich Heer promovierte. Der Schwerpunkt ihrer Forschungen liegt auf dem Gebiet der jüdischen Zeit- und Geistesgeschichte, zu dem sie zahlreiche Arbeiten veröffentlicht hat. Adunka ist Redaktionsmitglied der „Zwischenwelt – Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands“, Mitglied des österreichischen PEN-Clubs und Vorstandsmitglied der „Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung“. Sie war Gründungs- und langjähriges Vorstandsmitglied der 1990 in Wien gegründeten jüdisch liberalen Gemeinde „Or Chadasch – Bewegung für progressives Judentum“. 2019 wurde sie mit dem Preis der Stadt Wien für Publizistik ausgezeichnet. Kürzlich erschien ist im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft „Meine jüdischen Autobiographien. Eine Leseverführung“ (2021).

Frau Adunka, wenn Sie in der Zeitung lesen, Anne Frank wurde von einem Juden an die Nazis verraten, wie reagieren Sie darauf?

Evelyn Adunka: Das ist natürlich aufgebauscht. Es gibt hier viele Gegenargumente, und ich halte das nicht für beweisbar. Ich bin in dieser ganzen Sache sehr skeptisch.

Den Medien ist egal, was Historikerinnen oder Historiker je über die Zwangslage der sogenannten Judenräte schrieben. Hannah Arendt ist zwar in, aber es ist so, als hätte es die Diskussionen darüber nicht gegeben.

Adunka: Da stimme ich zu, all das wurde schon einmal diskutiert. Was Hannah Arendt betrifft: Sie war damals sehr einseitig und wurde dafür heftig kritisiert. Es gibt dazu noch ganz andere Literatur, die halt nicht ins Deutsche übersetzt worden ist.

Was sagen Sie zum neuen Denkmal für die ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden mit den Namentafeln?

Adunka: Ich war bei der Eröffnung, aber da ich die Kälte nicht mag, habe ich mir das noch nicht wirklich angeschaut. Aber ich glaube, dass es nicht schlecht ist.

Gehen wir zum Anfang zurück: Was waren die ersten Bücher, die Sie vorgelesen bekamen oder selbst lasen?

Adunka: An vorgelesene Bücher kann ich mich nicht erinnern. Aber später habe ich sehr von der Schulbibliothek in Villach profitiert, die sehr gut war, und dann von der Universitätsbibliothek in Klagenfurt, zu der ich als Schülerin mit meiner Mutter hingefahren bin um Bücher zu entlehnen. Ich habe in er Schulbibliothek zu Heinrich Böll gefunden, zu dem ich gerade jetzt wieder zurückkomme. Oder zu Martin Buber, Leo Baeck, Max Brod und natürlich auch zu Friedrich Heer. Ich hatte immer viel zu viele gute Bücher. Eine große Entdeckung war das Magazin „Der Spiegel“, der mir sofort gekauft wurde. Ich durfte mir als Maturageschenk in einer Buchhandlung in Klagenfurt Bücher aussuchen – ganze zehn Stück.

Erinnern Sie sich, welche das waren?

Adunka: Zu meiner Schande, nicht mehr an alle. Es war eine Biografie über Leo Tolstoi dabei, die ich bis heute nicht gelesen habe, die zwei Edition Suhrkamp Bände „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ und ein Buch von Carl Friedrich von Weizsäcker. Ihn habe ich nicht lange danach in Wien interviewt.

Haben die Autoren von damals noch immer Bedeutung für Sie?

Adunka: Das weiß ich gar nicht so genau. Ich lese gern Kritiken und Essays, aber auch Briefe und Tagebücher. Ich bin keine Romanleserin. Für Romane habe ich nicht die nötige Geduld. Am ehesten lese ich noch israelische Romane.

Das heißt, Sie lesen als Historikerin zweckgebunden?

Adunka: Ich erlaube mir immer mehr den Luxus, das zu lesen, was mich interessiert. Die deutsch-jüdische Geschichte, in letzter Zeit auch sehr viel DDR-Geschichte.

Kein Theater?

Adunka: Ich gehe nicht ins Theater, das hat keine oder kaum Wirkung auf mich.

Wenn Sie keine Lyrik lesen, lassen Sie jemanden wie Paul Celan auch aus?

Adunka: Ich habe viele seiner Briefe gelesen, und zu den Gedichten komme ich hoffentlich noch, das braucht noch mehr Zeit. Ich habe sie mir gekauft …

Woher rührt Ihr Interesse am Judentum, das Sie zum Gegenstand Ihrer historischen Forschung machten?

Adunka: Zuerst durch Lektüre, aber später durch Erfahrung und durch das Leben – durch meine Konversion. Ich hatte einen jüdischen Partner, der 2010 gestorben ist.

War der Partner der Grund – und war es eine schwierige Entscheidung?

Adunka: Nein, es hat sich einfach ergeben. Es war auch nicht schwierig. Je nachdem, wie man es macht. Und dafür bin ich auch zu liberal.

Wer war Ihr Lebensgefährte?

Adunka: Er hieß Edwin Roth und war Journalist; Auslandskorrespondent. Deshalb lebte ich auch lange in London. Er schrieb für die „Wochenpresse“ und für deutsche Zeitungen wie den „Tagesspiegel“. Er war gebürtiger Wiener, und ich bin gerade dabei, seine Familiengeschichte zu schreiben.

In Israel zu leben war nie eine Option?

Adunka: Nein, überhaupt nicht – obwohl ich oft dort war. Außerdem kann ich nicht gut genug Hebräisch, und es spräche noch einiges Andere dagegen. Es gibt auch dort viele Dinge, die mir nicht gefallen.

Wir leben in einer säkularisierten Welt, in der Austritte aus einer Kirche normaler sind als eine Konversion.

Adunka: Ich bin ein religiöser Mensch, das hat für mich sehr gepasst. Ich habe es nie bereut, und es war für mich genau richtig. Ich war dann auch in der liberalen jüdischen Gemeinde aktiv, bis es zu einer Spaltung kam.

Im deutschen oder österreichischen Umgang mit dem Nationalsozialismus wird die Empathie den Opfern gegenüber betont. Sie haben gleichsam die Welt der Täter durch Religionswechsel verlassen. 

Adunka: Es gibt natürlich dieses Phänomen. Das muss nicht immer eine Konversion sein. Uwe von Seltmann zum Beispiel, der Enkel eines SS-Mannes, der an der Zerstörung des Warschauer Ghettos beteiligt war, publizierte ein Buch über Mordechai Gebirtig und 2021 ein sehr lesenswertes Buch über 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Barbara Steiner hat in einem sehr sensiblen und gelungenen Buch Konversionen zum Judentum beschrieben. Meine Familie war zu katholisch, um Nazis zu sein.

Wie war es, in Österreich Judaistik zu studieren?

Adunka: Es lehrte Professor Kurt Schubert, den ich sehr geschätzt habe, aber sonst war da nicht viel. Es hat nur eine ganz geringe Anzahl von Personen Judaistik studiert. Ich war nie gern in der Schule, weil ich frei sein wollte, also habe ich auch das Studium nur minimal in Präsenz und sehr schnell betrieben. Das ging damals noch.

Sie gelten als eine der besten Kennerinnen der jüdischen Geschichte Österreichs, arbeiten aber außerhalb der Universität. Warum keine akademische Karriere?

Adunka: Anfangs hatte ich einen ganz kurzen Lehrauftrag, aber ich war dafür nicht geeignet. Es war auch nicht klar, ob ich zu den Historikern oder zur Philosophie gehöre. Ich habe dann viele Bücher besprochen, Fachliteratur, die ich für meine Arbeit brauchte, so etwa in der „Zwischenwelt“, der Zeitschrift der Kramer-Gesellschaft. Es war mir im Grund egal, wo ich publizierte, so schrieb ich auch in den „Israel-Nachrichten“.

Und Sie machten sehr viele Interviews mit allen möglichen Berühmtheiten …

Adunka: Ich hatte keine Scheu, Menschen anzusprechen, anzurufen oder anzuschreiben, und ich führte immer gern intellektuelle Gespräche, auf die ich mich genau vorbereitet habe. Es hat immer gut geklappt. Das war auch einer der Gründe, warum ich das Thema Friedrich Heer gewählt habe: Er war ein Türöffner, man konnte mit seinem Namen zu allen gehen.

Die Biographie von Friedrich Heer war Ihre Dissertation, um die es einigen Wirbel gab … 

Adunka: Die Tochter von Heer hat mich sogar geklagt, jedoch verloren. Sie hat dann auch die Gesamtausgabe von Heers Werken verhindert. Sie wollte alles unter Kontrolle haben.

Heer hatte mit seiner Widerstandtätigkeit während des Zweiten Weltkrieg ein wenig übertrieben …

Adunka: Na ja, aber die Radikalität seiner beiden Bücher „Gottes erste Liebe“ und „Der Glaube des Adolf Hitler“ war sehr bedeutend.

Wenn es um den Umgang mit dem Nationalsozialismus geht, wird heute üblicherweise von Österreichs Geschichtslüge gesprochen. Etliche Historiker nennen das die „Lüge von der Geschichtslüge“.

Adunka: Die tiefe Scham und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wie in Teilen der Gesellschaft in Deutschland gab es in Österreich nicht. Das finde ich sehr bedauerlich, aber ich sehe mich da nicht allzu zu sehr als Österreicherin.

Was meinen Sie damit?

Adunka: Ich lebe in meinem Geburtsland und möchte es nicht verlassen. Ich liebe Wien als Metropole, als politische und kulturelle Stadt, sie ist meine Heimat, aber es gibt sehr viel, was mich an Österreich stört.

Zum Beispiel?

Adunka: Ich liebe das Meer, die Wärme, den Süden, und nicht den Provinzialismus und den Nazismus. Das gilt auch für manche Politiker. Was meine Stimmung sehr gehoben hat, war der Sturz des Ex-Kanzlers Kurz, der sich für nichts schämt. Aber ich bin auch sehr beschämt über Amerika und fahre dort nicht mehr hin. Was dort passiert ist, ist auch schlimm.

Wie kam es zu Ihrem Werk „Meine jüdischen Autobiographien“, dieser über sechshundertseitigen Enzyklopädie?

Adunka: Ich habe einerseits immer gerne Autobiographien gelesen, andererseits wollte ich lange Zeit nach meiner Geschichte der jüdischen Gemeinde nach 1945 in „Die vierte Gemeinde“ eine Geschichte der jüdischen Gemeinde Wiens in der Zwischenkriegszeit verfassen. Damit bin ich gescheitert, weil es ein zu großes Projekt ist. Ich habe es nur in Teilbereichen realisiert. Im Rahmen der Mitarbeit am Lexikon der österreichischen Exilliteratur habe ich zahlreiche Biographien von Österreichern gesammelt und kurz beschrieben. Dabei entstand die Idee, das Ganze zu erweitern und anders anzulegen.

Ein Teil Ihres Buch erweckt gleichsam das jüdische Leben vor der Schoah wieder zum Leben. Liest man diese Biographien, verfällt man gleichzeitig in tiefe Trauer.

Adunka: Man findet in jeder Biographie irgendwas besonders Interessantes. Es ist jedoch kein Buch über die Shoah – es kommen darin viele britische oder amerikanische Autoren vor, deren Leben nicht direkt von der Shoah berührt wurde Ich könnte aus emotionalen Gründen keine Historikerin der Schoah sein, so wie ich auch nicht im zweiten Bezirk wohnen könnte, weil ich die Bilder, wie es dort vor 1938 war, immer vor mir sehe.

Sie würden das Buch auch nicht als eine Art Denkmal verstehen

Adunka: Nein, es ist ja kein Vorwurf. Es geht darin nicht um die Schoah, sondern um jüdisches Leben.

Im Untertitel steht „Verführung“

Adunka: Ja, weil ich will, dass die Bücher der von mir beschriebenen Autoren gelesen werden.

Um ein Beispiel aus dem Buch zu nennen: Lord Weidenfeld, der aus Wien gebürtige englische Verleger, war in seiner Jugend mit Kurt Waldheim befreundet. Gibt es noch etwas zu Waldheim zu sagen?

Adunka: Er war ein Opportunist und schrecklicher Mensch. Aber es war gut für Österreich, dass es ihn gab.

Als Ironie der Geschichte, damit sich das Land endlich mit seiner Geschichte befasst?

Adunka: Es ist doch gut, wenn die Nachfahren nachforschen, die Briefe lesen, die es irgendwo gibt – das ist schon viel.

Den Schlussstrich unter der Nazigeschichte lassen Sie nicht gelten …

Adunka: Nein, tue ich nicht. So etwas Ungeheuerliches muss weiter erinnert werden. Das kann auch die Zeit nicht aus der Welt schaffen. Die Menschen wollen und sollen wissen, was früher war, was jemand aus der eigenen Familie gemacht oder nicht gemacht hat.

Der berühmteste Name, der in Ihrem Lexikon nicht vorkommt, ist Simon Wiesenthal. Warum?

Adunka: Weil er selbst leider keine persönliche Autobiografie geschrieben, sondern sie von anderen hat schreiben lassen, von Peter Michael Lingens und von Joseph Wechsberg, der mit seinen eigenen Erinnerungen im Buch ist. Ich habe Wiesenthal mehrfach getroffen, auch Interviews mit ihm gemacht und ihn sehr geschätzt.

Was war der Grund für seinen Konflikt mit Leon Zelmann, dem Gründer des Jewish Welcome Service Vienna – Rivalität?

Adunka: Das ist schwer zu sagen – der eine stand der SPÖ, der andere der ÖVP nahe. Leon Zelman, der das „Jüdisches Echo“ herausgab, hat jedenfalls Texte von Wiesenthal für seine Zeitschrift genommen. Es bestand aber auch eine Rivalität Wiesenthals zu Elie Wiesel, die, wie ich schrieb, beider nicht würdig war.

Warum?

Adunka: Wiesel bekam den Friedensnobelpreis, auch Wiesenthal hätte sehr gern einen Nobelpreis gehabt.

Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti gehört nicht zu Ihren Lieblingsfiguren …

Adunka: Ich finde es nicht besonders sympathisch, dass er seiner lebenslangen Freundin Marie-Louise von Motesiczky, die ich kannte, seine Heirat mit einer anderen Frau verschwieg. Aber die vier Bände seiner Autobiographie sind ein wichtiges Zeugnis – auch seine Aufzeichnungen fand ich sehr lesenswert.

Andere unangenehme Biographien?

Adunka: George Steiner mit seinem Werk „The Portage to San Cristobal of A.H.“. Ich habe mich immer gefragt, wie man so ein seltsames Stück über Hitler schreiben kann! Das wurde dann auch noch im Theater aufgeführt. Ich habe ihn in England und Wien getroffen und ihm einmal geschrieben. Er hat dann nicht mehr geantwortet. Seine Erinnerungen sind, was nicht überraschend ist, sehr fragmentarisch, daher ist er nicht in meinem Buch. Es gibt auch Biographien wie jene von Ben Hecht, die sehr schwer zu schreiben waren, weil sie so widersprüchlich sind.

Wer war die interessanteste Person Ihres Lexikons, der Sie begegnet sind?

Adunka: Das kann ich nicht sagen. Raoul Hilberg hat mich sehr beeindruckt und mich in seiner Autobiographie auch erwähnt Im Eintrag über ihn habe ich versucht auch das zu beschreiben. Ein Interview mit ihm ist nicht publiziert. Aber man könnte sich auch fragen, warum ich von Marcel Reich-Ranicki so beeindruckt bin, von seiner Geschichte, seinem Wirken gerade in Deutschland, und von seiner Leidenschaft für die Literatur.

Woran arbeiten Sie jetzt?

Adunka: Derzeit schreibe ich anhand des Familienarchivs die Geschichte der Familie Roth/Landau. Danach würde ich gern an einem Buch arbeiten, in dem ich noch einmal alle meine Lektüren beschreibe. Anthony Rudolf, der in meinem Autobiographienbuch ist, hat so etwas gemacht, aber ich würde es etwas anders anlegen.

Bleibt nur noch die Frage nach einer Lieblingsbuchhandlung.

Adunka: Die habe ich eigentlich nicht – oder vielleicht: In New York gibt es das berühmte „Strand Bookstore“, eine antiquarische Buchhandlung mit sieben Geschoßen, ein riesiges Geschäft. Die schicken auch alles nach Europa. Und draußen gibt es eine Kiste mit ganz billigen Büchern.

(c) Nini Tschavoll
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