anzeiger 3/2021 – Auftritt Literaturkritik

Wo steht die Literaturkritik nach einem Jahr der Pandemie – und die österreichische Literatur in den Augen der Kritiker*innen?

Text: Teresa Preis

Das Aufspüren, Lesen, Kontextualisieren und Bewerten aktueller Bücher ist ihr Beruf: Literaturkritiker*innen verschaffen sich jede Saison aufs Neue einen Überblick über die Neuerscheinungen. Wir haben sie zum aktuellen Stand der österreichischen Literaturszene befragt.

Vielfältig, reichhaltig und bodenständig
Der gebürtige Schweizer Stefan Gmünder schreibt für die Tageszeitung Der Standard und das Literaturmagazin Volltext. Außerdem war er von 2015 bis 2019 Juror beim Bachmannpreis. „Die österreichische Gegenwartsliteratur ist vielfältig“, so Gmünder. „Sprache, auch das Spiel mit ihr, ist in Österreich wichtiger als in unseren deutschsprachigen Nachbarländern.“ Doch auch alles, was zu einer florierenden Literaturwelt dazugehört, schätzt der Literaturredakteur: „Das ‚literarische Leben‘ mit all seinen Veranstaltungen, Festivals, Literaturtagen ist bemerkenswert. Hoffentlich bleibt es auch nach Corona so.“

Wolfgang Paterno ist Redakteur beim Nachrichtenmagazin profil. Auch er schätzt die Vielfalt der heimischen Literatur: „Die Gegenwartsliteratur hat etwas Großes und Reichhaltiges, obwohl Österreich ja nur dieses kleine Land ist. Auch deshalb bin ich immer wieder aufs Neue überrascht. Hierzulande wird auf Teufel komm’ raus geschrieben. Es kommen junge Autor*innen nach, die sich von dem Ganzen anstecken lassen.“ Das sei in der Welt von Social Media und kärglicher Bezahlung durchaus erstaunlich: „Sich trotzdem hinzusetzen, sich zu absentieren, viele zusammenhängende, twittermäßig eher unzweckmäßige Sätze zu schreiben, die eigentlich niemand braucht – das ist eigentlich das schönste Paradoxon.“

Auch für die Grazer Krimiexpertin Ingeborg­ Sperl hat die lokale Literatur eine besondere Note. So unterscheiden sich österreichische Kriminalromane klar von deutschen. „Heimische Krimis sind bodenständiger und haben eine spezifische Art von Humor, die nicht mit dem deutschen vergleichbar ist.“ Sperl schreibt regelmäßig für Der Standard und ist 2021 erstmals Teil der Jury für den Leo-Perutz-Preis für Wiener Kriminalliteratur.

Klaus Nüchtern, Literaturkritiker bei der Wochenzeitung Falter, kann hingegen keine besonderen Charakteristika österreichischer Gegenwartsliteratur feststellen. „Es erscheint dermaßen viel, dass das niemand, jedenfalls ich nicht, überblicken kann. Ich glaube gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Menschen, die österreichische Gegenwartsliteratur schreiben, eint vermutlich wirklich nur die Staatsbürgerschaft.“

Zu brav, zu unrebellisch und zu wenig zeitgenössisch
Die Literaturkritikerin Anne-Catherine Simon von der Tageszeitung Die Presse betont die Fülle der österreichischen Literatur. Besonders ins Auge gestochen  ist ihr dabei Christoph Ransmayrs neuer Roman „Der Fallmeister“ (S. Fischer): „Ich kann nur sagen, dass ich mich in diesem Frühjahr bei Ransmayr wieder bestätigt sehe, dass wir Autor*innen haben, die das Wort ‚groß‘ wirklich verdienen.“ Wie ihre Kolleg*innen beobachtet auch Simon österreichische Besonderheiten beim Spiel mit der Sprache: „Bei jungen Autor*innen staune ich oft über sprachliche Virtuosität und stilistische Raffinesse, vermisse dabei aber immer wieder Ausdruckswillen und Substanz. Zu oft scheint es vor allem darum zu gehen, vorzugsschülerhaft zu beeindrucken. Insofern finde ich die Neuerscheinungen junger Autor*innen auch häufig erstaunlich ‚brav‘ und unrebellisch.“

„Ich würde mir von der österreichischen Gegenwartsliteratur noch mehr Zeitgenossenschaft wünschen“, sagt Stefan Gmünder vom Standard. „Ich meine damit den Vorstoß in jene Gebiete des Stoffes und der Ästhetik, die den sicheren Pfad verlassen und sich streitbar mit ‚unserer Zeit‘ aus­einandersetzen, vor allem mit ihren sozialen Verwerfungen und Undurchlässigkeiten. Solche direkten und kompromisslosen Ansätze glaube ich etwa in der französischen Literatur mit Virginie Despentes, Édouard Louis oder Didier Eribon zu erkennen.“

Für Gmünder stehen diesbezüglich allerdings auch die großen (deutschen) Publikumsverlage in der Pflicht. „Sie stehen ökonomisch unter Druck und setzen zunehmend auf das vermeintlich Sichere, Verkäufliche. Man könnte nun sagen, dass diese Entwicklung von den gerade in Österreich zahlreich vertretenen Kleinverlagen abgemildert wird, die eine gewisse Vielfalt ästhetischer Positionen garantieren. Allerdings machen diese immer schon an der Grenze zur Selbstausbeutung agierenden Kleinverlage die Literatur reich – und nicht umgekehrt. Das letzte Jahr hat das nicht besser gemacht.“

Steigende Digitalisierung und das Corona-Loch
Das vergangene Jahr brachte herausfordernde Bedingungen mit sich, auch für die vielen Neuerscheinungen. Keine herkömmlichen Buchpräsentationen oder Lesereisen und mit den teilweise geschlossenen Buchhandlungen und abgesagten Buchmessen fehlte vielen Büchern darüber hinaus die übliche Aufmerksamkeit. Ob die Situation den Druck vergrößert hat, Autor*innen im Feuilleton eine Bühne zu bieten? Nein, sagt Klaus Nüchtern vom Falter, und fügt an: „Ich wüsste auch nicht, wer den hätte wie und auf wen ausüben können.“ Wobei auch er konstatiert: „Tatsächlich sind viele Veröffentlichungen ins ‚Corona-Loch‘ gestürzt. Das bedeutet nicht nur verminderte Aufmerksamkeit, sondern vor allem: keine Auftritte und Lesungen. Die machen für die meisten Autor*innen einen größeren Anteil des Einkommens aus als die durch den Verkauf von Büchern lukrierten Tantiemen. Dieser Umstand lässt sich auch durch wohlwollende Berichterstattung in keiner Weise kompensieren.“

Stefan Gmünder vom Standard stellt sogar noch eine ganz andere Verschiebung fest. Einerseits sei da die Digitalisierung, die auf dem Buchmarkt und in der Kritik zu einer Beschleunigung geführt habe. Andererseits werde „der Literatur teilweise in den Medien weniger Platz eingeräumt“. Immerhin würden dafür zunehmend Blogs wie „Präposition“ oder „54Books“ in diese Bresche springen.

Geänderte Bedingungen
Während sich für Gmünder mit Ausbruch der Pandemie nicht viel geändert hat, schließlich geht es bei der Arbeit weiterhin vor allem um eine möglichst ernsthafte Auseinandersetzung mit Literatur, merkt Ingeborg Sperl einen anderen Unterschied. Die persönlichen Kontakte haben seit Beginn der Pandemie abgenommen. „Das schadet schon“, sagt die Krimikritikerin. Sie hat ihren Lebensmittelpunkt nun auf dem Land und arbeitet nur an zwei Tagen pro Woche in Wien.

Für Anne-Catherine Simon hat sich nicht viel verändert. Doch eine positive Entwicklung stellt sie fest, und die brachte den Fokus auf das Wesentliche. „Durch das Homeoffice habe ich mehr Ruhe und Zeit zum Lesen von Büchern und Nachdenken über Bücher. Der Organisationsaufwand, die Wegzeiten, die Ablenkungen, all das hat sich bei mir durch das Homeoffice reduziert.“

Der Wechsel ins Homeoffice hat auch die Arbeit von Wolfgang Paterno beeinflusst. „Die Verlagsvorschauen und vor allem die Leseexemplare stapeln sich in der Regel an zwei Terminen auf dem Büroschreibtisch, im Frühjahr und im Herbst. Viele Titel sind im vergangenen Jahr entweder gar nicht erschienen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden. Da ist sehr vieles aus dem Takt geraten.“ Sein Büro im 19. Bezirk hat Paterno in den vergangenen Monaten nur sporadischen aufgesucht. „Die Arbeitsweise an sich ist gleich geblieben, nur wie man letztendlich an die Bücher kommt, hat sich verändert.“

Was man lesen soll
Auf die Frage nach Werken, die in letzter Zeit besonders beeindruckt haben, geraten alle Befragten ins Schwärmen. Stefan Gmünder etwa ist von Claudia Bitters Roman „Kennzeichnung“ überzeugt: „Ein ‚Amt‘ lenkt hier die Geschicke der Gesellschaft. Es kümmert sich um alles, kontrolliert alles und lenkt alles. Kindern wird ein Plus oder Minus in den Oberarm tätowiert, die Kennzeichnung ist endgültig – und weist dem ‚Bürger‘ fürderhin seinen Platz in der Gesellschaft zu. Vor der Folie einer Alleinerzieherin und ihres Sohnes umreißt die Autorin verschiedene Formen der Anpassung, wobei eine Dystopie in diesem Roman nicht behauptet, sondern mit sprachlichen Mitteln heraufbeschworen wird“. Das Buch ist im Klever Verlag erschienen. Gmünder fügt an: „Insgesamt wird die Arbeit der kleineren Verlage für das literarische Leben unterschätzt.“

Gleich zweimal fallen auch die Namen von Monika Helfers Büchern (siehe auch das Interview „Selbstredend“ im anzeiger 2/2021). Anne-Catherine Simon war berührt und beeindruckt von Helfers neuem Buch „Vati“ (Hanser): „Mir gefällt sehr, mit welcher Feinheit von Stil und Gefühl sie hier der Persönlichkeit und Lebensgeschichte ihres Vaters gerecht zu werden versucht, wie unsentimental zärtlich und uneitel im Ausdruck. Ich habe den Eindruck, die Autorin hat an ihren scheinbar schlichten Sätzen viel gefeilt, bis kein Wort zu viel mehr dran war. Wohl auch deswegen steckt in diesen nur 170  Seiten so viel drin.“

Auch bei Klaus Nüchtern haben Monika Helfers Bücher einen großen Eindruck hinterlassen: „Das ist zwar nicht sonderlich originell, aber ich finde schon, dass Monika Helfers ‚Die Bagage‘ und Stefanie Sargnagels ‚Dicht‘ die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie verdienen. Das sind Bücher, die nicht nur geschrieben wurden, weil wieder ‚etwas Neues‘ fällig ist oder ‚Literatur‘ gemacht werden soll, sondern die etwas zu erzählen haben und das auf eine unprätentiöse und uneitle Weise tun. Außerdem schätze ich die sanft renitente Menschenfreundlichkeit, die beide eint.“

Wolfgang Paterno hebt den Roman „So ist die Welt geworden“ (bahoe books) von Marlene­ Streeruwitz hervor: „Es kommt verhältnismäßig selten vor, dass man eine zeitnahe, fast schon parallele Mitschrift für einen Zustand lesen darf, der jede*n von uns betrifft. Es ist fast so, als würde man in der ,Odyssee‘ inmitten der tatsächlichen Irrfahrt blättern können. Ich halte Streeruwitz’ Roman für eine wichtige Form der Literatur, die Emotionen und Gedanken speichert. Eines Tages wird die Corona-Pein vorbei sein – und dann können wir uns lesend daran erinnern, wie die Welt war, wie sie geworden ist.“ Als Kontrast zum Covid-19-Roman nennt Paterno die Erzählung „Walter oder die ganze Welt“ (Limbus) von Wolfgang Hermann: „Eine kleine, fein gemachte Erzählung über einen Provinzpolizisten, die zeigt, was ein Leben ausmachen kann.“

 

Illustrationen: Georg Feierfeil
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