anzeiger 3/2021 – Hitlers großes Vorbild

War sein Vater, wie der Historiker Roman Sandgruber in seinem aktuellen Buch schreibt. Nach Traumzeit und dem Buch über die Familie Rothschild hat Sandgruber mit Hitlers Vater eine Art Trilogie abgeschlossen.

Interview: Erich Klein

Der Historiker Roman Sandgruber, 1947 in Rohrbach in Oberösterreich geboren, war von 1988 bis zu seiner Emeritierung 2015 Leiter des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz. Sandgruber, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, war zudem von 1998 bis 2003 in der Österreichischen Historikerkommission und kuratierte zahlreiche Landesausstellungen.
Einem größeren Publikum bekannt wurde er mit „Traumzeit für Millionäre. Die 929  reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910“ (2013) und „Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses“ (2018, Wissenschaftsbuch des Jahres), jüngst erschien im Molden Verlag „Hitlers Vater: Wie der Sohn zum Diktator wurde“ (2021).

Herr Sandgruber, wann ist Ihr Interesse an ­Geschichte erwacht?
Roman Sandgruber: Ich hatte viele Inte­ressen – nicht nur Geschichte (lacht), ja weiß eigentlich nicht, warum ich auf Geschichte kam. Neben dem Lehramtsstudium belegte ich Volkswirtschaftslehre und spezialisierte mich dann auf Wirtschaftsgeschichte. Es war nicht klar, ob eine Universitätslaufbahn oder ein Beruf in der Wirtschaft folgen würde, ich bin aber schließlich bei der Wirtschaftsgeschichte hängengeblieben, die zusammen mit Sozialgeschichte mein Spezialgebiet wurde. Dies kam mir bei meinem jüngsten Buch über Hitler zustatten – der junge Adolf Hitler ist ein stark sozialgeschichtliches
Thema.

Wirtschafts- und Sozialgeschichte waren damals sehr neue Disziplinen. Hätten Sie damals eine Biografie geschrieben?
Sandgruber: Es war eine damals sehr moderne und junge Disziplin, wir waren von der französischen Strukturgeschichte beeinflusst, etwas ganz anderes, als sich mit mittelalterlichen Urkunden zu beschäftigen. Und Biografien wurden damals nicht sehr geschätzt. Außerdem durften wir an der Universität Wien als Wirtschaftshistoriker keine Zeitgeschichte betreiben. Für Hitler und den Nationalsozialismus war ein anderes Institut zuständig (lacht). Eine Geschichte von Hitlers Vater wäre an der Universität nicht toleriert worden, auch die Zeitgeschichtler machten das nicht. Es ist schon interessant, dass in Österreich Hitler als Person, seine österreichische Herkunft und sein Milieu völlig verleugnet wurden. Es gab keine Biografie ­eines österreichischen Historikers über Adolf Hitler – Brigitte Hamann war mit „Hitlers Wien“ lange Zeit die einzige Ausnahme, aber Hamann ist eine Deutsche. Während meines Geschichtestudiums hatte Zeitgeschichte 1933 oder 1934 geendet.

Haben Sie je daran gedacht, ein Hitler-Buch zu schreiben – oder sind der Grund die Briefe seines Vaters, die plötzlich aufgetaucht sind?
Sandgruber: Ich habe mehrere Sachen zur NS-Zeit gemacht – die Geschichte der NS-Gründung von Lenzing. Auch war ich eines der sechs Mitglieder der Österreichischen Historikerkommission und habe mich ausführlich mit dem Nationalsozialismus ­beschäftigt. Doch dass ich mich Hitler auf diese Weise widmen würde, habe ich nie gedacht. Ich war freilich während meiner Lehrtätigkeit an der Universität Linz stets davon überzeugt, dass man gerade in Oberösterreich eine besondere Verpflichtung hat, sich mit Adolf Hitler und seinem Milieu zu beschäftigen, allzumal es diesbezüglich große Defizite in der Forschung gab. Als mir Briefe von Hitlers Vater angeboten wurden, war rasch klar, dass sich damit eine Lücke schließen und man ein Problem wenn schon nicht lösen, so zumindest angehen kann. Ich habe mich dann intensiv mit der Kindheit und Jugend von Adolf Hitler beschäftigt. Es war also ein gewisser Zufall, Lebensplanung war das nicht.

Was erstaunt Sie an Hitler am meisten?
Sandgruber: Der Starrsinn seiner Verbrechen. Er kam offenbar nie auf die Idee, dass er etwas falsch macht und vielleicht seine Richtung ändern müsste. Sein Denken und sein Weltbild bleiben von seinen Jugendjahren bis zum Jahr 1945 unverändert. Natürlich machte er viele Erfahrungen, hörte und las viel, aber seine Gedanken und sein Weltbild blieben vom sechzehnten bis zum sechsundfünfzigsten Lebensjahr merkwürdig starr. Das wirklich Überraschende an dieser Person: Sie ändert sich nicht und führt das Land und die Welt unbeirrbar ins Verderben.

Bis zum sogenannten Nero-Befehl 1945: Wenn er untergeht, müsse alles andere in Deutschland auch mit untergehen.
Sandgruber: Irgendwie glaubte er dabei, dass er die Welt retten oder befreien würde, wenn sie untergeht. Eine merkwürdige Märtyrerideologie, die an verbrecherischer Dynamik nicht mehr zu überbieten ist.

Was wäre aus der Welt ohne Hitler geworden?
Sandgruber: Es ist umgekehrt zu formulieren: Man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Geschichte ohne Hitler anders verlaufen wäre. Hitler ist eine der wenigen Persönlichkeiten, von denen sich mit einiger Sicherheit sagen lässt, dass sie den Geschichtsverlauf maßgeblich beeinflusst haben. Es gibt nicht viele Menschen, von denen man das behaupten kann. Das ist sicher auch ein Grund dafür, warum sich so viele mit der Person Hitler beschäftigen und warum man sich mit ihr weiter beschäftigen muss.

Lenin ist ein ähnlicher Fall …
Sandgruber: Es gibt bei Hitler unzählige Geschichten etwa von der Hebamme, wenn sie ihm 1889 die Nabelschnur um den Hals gezogen hätte, oder wenn ein gewisser Kühberger den kleinen Hitler nicht aus einem Fluss gerettet hätte, in den er gefallen war. Das gehört zur Legenda aurea, derartige „Heiligenlegenden“ wurde um Hitler noch und noch gesponnen. Er verstand sich selbst als einer, der von der Vorsehung geschickt und immer wieder gleichsam wundersam errettet wurde. Ernst nehmen darf man diese Legenden nicht.

Was halten Sie von der aufgeregten Diskussion über Hitlers Geburtshaus in Braunau?
Sandgruber: Hitler hat zu Braunau eigentlich kaum eine Beziehung. In diesem Haus hat er höchstens sechs oder acht Wochen gelebt, dann ist die Familie übersiedelt. In Braunau verbrachte er nur die ersten drei Jahre seiner Kindheit und war später nachweislich auch nur zweimal in Braunau. Einmal 1920 für eine Rede und 1938, als er beim Einmarsch durch den Ort fuhr.

Ohne dort anzuhalten …
Sandgruber: Für Hitler hatte Braunau symbolische Bedeutung – als eine Art Bethlehem. Es war quasi vorherbestimmt, dass sich sein Geburtsort Braunau an der Grenze zweier Staaten befindet, und er selbst war ausersehen, diese beiden Staaten zusammenzuführen. Das war die Botschaft, die er in „Mein Kampf“ wie ein Evangelium verbreitet. Das Geburtshaus spielte eine symbolische Rolle, die man nicht leicht wegbringt. Dementsprechend muss man aufpassen, wie man damit umgeht. Ich halte die momentanen Pläne und Umbauentwürfe nicht für sehr ­glücklich. Hitler hätte sie gutgeheißen und Gefallen daran gefunden, wie die Architekten das Hitler-Haus umbauen – er hatte ja ähnliche Vorstellungen von Steildächern. Ich will den Architekten gar keine Vorwürfe machen, alles wäre korrekt, würde es nur darum gehen, ein Gebäude in eine Altstadt einzupassen. Da es aber um das Hitler-Haus geht, hätte man anders damit umgehen müssen oder es einfach sein lassen.

Wie wurde Hitler, der Sohn, zum Diktator?
Sandgruber: Man darf sich keine endgültigen Erklärungen erwarten, man kann nur sagen, welche Einflüsse auf den jungen Adolf Hitler in Oberösterreich eingeströmt sind. Dann kann man nach Wurzeln suchen: für Hitlers Antiklerikalismus, seinen Anti­slawismus und Nationalismus, seinen Antisemitismus, das biologistische Denken, sein Kunstverständnis und seine Sprache. Für all das finden sich in Oberösterreich Wurzeln, und nun kann man überlegen, was er davon aufgenommen hat. Also: Wo kommt Hitlers Weltbild her? Man kann natürlich fragen, auf welche Weise der Vater auf ihn eingewirkt hat. Was ist zwischen dem Vater und dem Sohn gelaufen?

Was ist da gelaufen?
Sandgruber: Man bekommt den Vater anhand der Briefe ein wenig besser zu fassen  – und dieser Vater war Hitlers großes Vorbild. Adolf Hitler ist seinem Vater in vielem sehr ähnlich: im Schreibstil, in der Schrift, selbst in der Unterschrift. Ja ihr Lebensweg erscheint sehr ähnlich: Sie ähneln einander in ihrer autodidaktischen Bildung, in der Verachtung aller Experten und „Gstudierten“. Adolf Hitler kultiviert sich als Genie, der Vater kultiviert sich als einer, der nicht so weit kommen kann, wie er aufgrund seines Wissens eigentlich kommen müsste. Er hat sich viel angelesen, weiß viel, ist aber kein Akademiker, weshalb er in seiner Karriere nicht weiterkommt. Der alte Hitler stilisiert sich als Experte und verachtet alle anderen, besonders in der Landwirtschaft. Er kauft ein Bauernhaus, das er mit viel Mühe finanziert, kann es aber eigentlich nicht führen. Er möchte nichts arbeiten, nur auf dem Pferd sitzen und sich von Knechten bedienen lassen, glaubt dabei aber auch, alles besser zu wissen. Er glaubt, ein besserer Bauer zu sein als alle in der Umgebung, weil er über moderne Düngemethoden Bescheid weiß, über moderne Viehzucht und Betriebsmittel – die anderen Bauern sagen: Der lebt ja nach dem Buch.

Diese Attitüden finden sich auch beim Sohn wieder …
Sandgruber: Adolf Hitler kopiert den Vater geradezu bis zum Exzess. Auch er verfügt nach dem Abbruch der Schule über eine autodidaktische Halbbildung und sehr viel angelesenes Wissen. Er verachtet seine Umgebung von den Militärs über die Juristen bis zu den Technikern. All das findet man schon beim Vater: Die katholische Prägung, alles besser zu wissen, keine Berater und keine demokratischen Legitimationen zu brauchen, weil man selbst ein Genie ist, und das Genie ist der Führer. Natürlich spielen auch die Schule und das politische Milieu in Linz eine Rolle, selbst wenn man nicht sagen kann, dass es genau diese Momente sind, die zum Diktator hinführen. Bemerkenswert ist dennoch, dass sehr markante Nationalsozialisten in Linz aufgewachsen sind oder das damit verbundene Realgymnasium besucht haben: Hitler, Kaltenbrunner und Eichmann. Drei Linzer, die hier zu nennen wären.

Was meinen Sie genau?
Sandgruber: Um 1900 herrschte in Linz ein sehr nationales Klima, obwohl dafür eigentlich kein Grund bestand. Es gab keine Minderheiten, gegen die man hätte vorgehen können, nur Katholiken, ganz wenige Evangelische und kaum Juden. Die „Feinde“, gegen die man vorging, existierten gar nicht. Dennoch gab es eine kleine Minderheit, die extrem deutschnational agierte und Antisemitismus propagierte. Drei der übelsten Hetzblätter, die Fliegenden Blätter, Der Scherer und Der Kyffhäuser, wurden zu Hitlers Zeit in Linz verlegt.

Linz war für Hitler ein Schock …
Sandgruber: Er hatte sein erstes Albtraumerlebnis, als er aus dem dörflichen Leonding nach Linz in die Realschule kam. Davor hatte er immer in eher kleinstädtischen oder ländlichen Gebieten gelebt: am Bauernhof in Hafeld, einem sehr kleinen Bauerndorf, in Lambach – auch Braunau war mit 3.500 Einwohnern nur eine Kleinstadt. Dann kam er nach Linz in die Realschule, eigentlich eine Schule für Oberschichtkinder. Zwei oder drei Jahre vorher war Ludwig Wittgenstein, der aus einer der reichsten Familien der Monarchie stammte, in dieser Schule und fühlte sich dort nicht wohl. Hitler noch viel weniger in diesem Ambiente von vorwiegend urbanen, groß- und bürgerlichen Buben. Er sprach Dialekt, musste in diesem Milieu erst eine neue Sprache lernen und erlebte einen Misserfolg – gleich im ersten Jahr fiel er durch.

Auf den letzten Fotos aus dem Führerbunker sieht man ihn über das Modell für Linz als ­eine der „Führerstädte“ gebeugt …
Sandgruber: Diese letzten Szenen waren nur mehr Flucht aus der Realität in die Traumwelt seiner Jugend zurück. Wenn man den Erinnerungen seines Jugendfreundes Kubizek Glauben schenkt, bewegte sich Hitler auch damals schon in einer Traumwelt. Er wollte Linz umgestalten. Am Lichtenberg sollte ein dreihundert Meter hoher Turm errichtet werden, zwischen dem Freinberg und dem Pöstlingberg eine Hängebrücke in schwindelerregender Höhe, am Pöstlingberg selbst eine Sternwarte entstehen; die Donau sollte eine monumentale Verbauung bekommen und durch die Stadt eine überbreite Allee verlaufen. Das wäre für Linz zu einem Albtraum geworden! Goebbels schrieb angesichts der Bombenschäden in seinen Tagebüchern, wir bauen das nach dem Endsieg in drei, vier Jahren wieder auf, wir haben ja Zwangsarbeiter. Linz sollte zu einem neuen Budapest an der Donau werden, monumentaler als Wien, die Städte wurden gegen­­-einander ausgespielt.

Hitlers nächste Station ist Wien. Hat ihn das noch mehr geprägt?
Sandgruber: Hitler sehnt sich nach Wien als Gegenpol zum provinziellen Linz. Wien ist die strahlende Stadt, wo es elektrisches Licht gibt, Linz ist nicht nur diesbezüglich rückständig. Hitler zeigt sich von Wien beeindruckt, kommt hier jedoch aus eigenem Verschulden in große Bedrängnis. Das wäre allerdings auch in Linz passiert, denn nach dem Tod des Vaters lebte die Familie über ihre Verhältnisse und gab mehr aus, als sie einnahm. Das Haus in Leonding wurde relativ gut verkauft. So konnte Hitler zwischen 1905 und 1908 das Leben eines Bohemiens führen, ging ins Theater, kaufte sich fortschrittliche Anzüge, trug Zylinderhut und Glacéhandschuhe. Zunächst verfügte er über eine Waisenrente und Zuwendungen seiner Tante. Aber all das wurde rasch weniger, er geriet immer mehr in Not. Hätte er diesen Lebenswandel in Linz geführt, wäre dasselbe passiert. Er verarmte, konnte seinen Lebensstandard nicht mehr halten, landete im Männerheim und in Armenquartieren. Er war allerdings nicht so „unten“, wie man es sich oft vorstellt, aber deutlich unter dem bis dahin gewohnten Niveau.

Entsteht daraus seine Abneigung gegen Wien?
Sandgruber: Wien ist für ihn auch die Projektionsfläche eines Völkergemisches, anders als von Linz gewohnt. Er hatte in Linz zweifellos Bilder von Juden gesehen, kam auch schon als Antisemit nach Wien, um hier dann Ostjuden zu sehen – das spielte sicher eine gewisse Rolle. In Wien entstand seine Aversion gegen das „Völkerbabel“ des habsburgischen Wien, das er ablehnte und aus dem er wegwollte. Als er das väterliche Erbe ausbezahlt bekam, ging er nach München, also auch aus finanziellen Gründen, er hatte wieder etwas Geld.

Ihre beiden vorangegangenen Bücher haben Wien um 1900 zum Gegenstand – die Millionäre der Ringstraßenzeit.
Sandgruber: Die „Traumzeit“ ist eine Auseinandersetzung mit Reichtum, Einkommensverteilung und der Sozialstruktur Wiens in der Traumzeit vor dem Ersten Weltkrieg. Damals wurden hochkulturelle Leistungen geschaffen, dabei spielte die jüdische Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Unter den tausend Beziehern der höchsten Einkommen waren sechzig Prozent jüdischer Herkunft, dieses Phänomen habe ich einer sozialstatistischen Analyse unterzogen. Auch dieses Buch ist einem Zufallsfund geschuldet, den Einkommenssteuererklärungen eines ganzen Jahres, in denen alle Millionäre namentliche erfasst sind. Mein Ziel war immer, statistisch anspruchsvolle Analysen lesbar zu machen, sodass sich die unterschiedlichsten Menschen darin finden können. Das Lexikon mit den Namen der 929 Reichsten am Ende des Buches befriedigt auch voyeuristische Bedürfnisse. Mir wurde erzählt, dass es in Hietzing deshalb gelesen wurde, um vergleichen zu können, in wessen Haus früher die reicheren Vorbewohner gelebt haben (lacht).

Danach kam das Buch über die österreichischen Rothschilds. Haben Sie damit Ihre Trilogie des 20. Jahrhunderts abgeschlossen?
Sandgruber: Das weiß ich nicht (lacht). Das Rothschild-Buch ist direkt aus dem „Traumzeit“-Buch herausgewachsen. Außerdem stellte ich fest, dass es für Österreich keine Rothschild-Geschichte gab. Dazu kam, dass Russland 2001 das nach 1945 aus Wien verschwundene Rothschild-Archiv zurückgestellt hatte. Die Rothschild-Geschichte ist eine Traumgeschichte für ­Wirtschaftshistoriker, das Modell des österreichischen Ökonomen Joseph Alois Schumpeter, wonach eine Generation aufbaut, die nächste gewinnt und die letzte wieder verliert, ist hier so perfekt vorgeführt, dass man es nicht besser erfinden könnte.

Warum blieb die Geschichte der Rothschilds in Österreich so lange ausgeblendet?
Sandgruber: Es war eine Auslöschung, man wollte diese Familie auslöschen. Für Sozialdemokraten und Kommunisten war sie der Inbegriff der Großkapitalisten, für die Nationalsozialisten ebenso, auch für die ÖVP gehörten die Rothschilds zu einer anderen Welt, mit der man nichts mehr zu tun haben wollte. Obwohl sie nicht zerstört waren, wurden die beiden Rothschild-Palais abgerissen, ebenso wie das Rothschild-Spital, die Rothschild-Gärten wurden eingeebnet. Rothschild wurde in Wien aus dem Gedächtnis gelöscht, niemand hat darüber geschrieben. Ich fühlte mich verpflichtet, die Geschichte dieser Familie in die österreichische Wirtschafts- und Kulturgeschichte zurückzu­bringen.

Sie haben Landesausstellungen kuratiert und sich ausführlich mit lokaler Geschichte ­beschäftigt. Wie wichtig war Ihnen die ­„Provinz“?
Sandgruber: Man hat als Historiker auch die Aufgabe, die regionale und kleine Geschichte des Landes zu präsentieren und nicht nur Weltgeschichte. Mir war das Verständnis der Region und der Alltagsgeschichte immer ein Anliegen.

Sie haben die ganze Zweite Republik erlebt. Wie gefällt Ihnen Österreich heute?
Sandgruber: Es hat mir schon einmal besser gefallen, ist aber immer noch ein schönes Land. Ich hoffe, dass das erhalten bleibt: unsere offene Kultur, unser Wohlstand und – am wichtigsten – der Eifer der Österreicher. Ich halte es für bezeichnend, dass es sich um eine Gesellschaft handelt, in der Leistung, die mit Freude erbracht wird, eine große Rolle spielt. Das ist etwas, das auch mir selbst mitgegeben wurde. Ich bin 1947 geboren, habe die Kriegszeit nicht mehr erlebt, Not allerdings noch kennengelernt. Ich habe nie gehungert, aber es waren damals doch sehr raue Umstände: Internat mit Schlafsälen für fünfzig Burschen, ungeheizt, kaltes Wasser. Das ist heute unvorstellbar – ebenso das weite Zu-Fuß-Gehen. Wir haben in der ersten Klasse Volksschule das Schreiben mit Griffel und Schiefertafel gelernt wie im Rom der Antike. Innerhalb von fünfzig Jahren hat sich die Welt dann in die Zukunft verändert.

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