Anzeiger 6/2020 – Die Welt retten

Nach einem turbulenten Frühling und Sommer hier Vorschläge für die richtige Lektüre im Herbst. Von besonderen Orten, starken Frauen, vielfältigen Kulturen und dem Kampf gegen die Verursacher des andauernden Klimawandels.

Text: Hannah Lea Jutz

URLAUB IM KOPF: Reisen auf dem Papier
Der Urlaub im Ausland gestaltet sich in diesem Sommer schwierig. Doch für die schönsten Reisen muss man angeblich eh nur ein Buch in die Hand nehmen. Zum Beispiel den Roman „Turbulenzen“ (Hanser), der die Lesenden auf eine Reise um die Welt führt. Es geht von London nach Dakar, São Paulo, Toronto, Delhi und wieder zurück. Autor David Szalay erzählt die Geschichte von zwölf Menschen, die sich treffen, während ihr Leben in Turbulenzen gerät. Ein indischer Golfer, ein Geschäftsmann aus dem Senegal und eine Frau, die ihren krebskranken Sohn in London besucht hat. In diesem spannenden Roman berührt jedes Leben das nächste.

Nicht um die ganze Welt, aber zumindest nach New York und Berlin führt der Roman „Echos Kammern“ (Droschl). Iris Hanika erzählt von Sophonisbe, die in den Big Apple zieht, um ein Buch zu schreiben. Nach zehn Wochen und einer Party mit Beyoncé zieht sie zurück nach Berlin und bemerkt dort, dass New York nicht die einzige Großstadt ist, die nicht den Bewohnern, sondern der Immobilienbranche gehört. Nur muss sie in Berlin auch noch den Liebeswahn ihrer Mitbewohnerin aushalten …

Nach dem Tod seiner ersten Frau zieht der Mann von London nach Paris. Nach dem Tod der zweiten von Paris nach Wales. Aber egal wo, er lebt zurückgezogen und macht das, was er scheinbar immer schon gemacht hat. In „Wohin gehst du, mein Leben?“ (jung und jung) erzählt der Autor Gabriel Josipovici vom Leben eines Mannes, der sich in Routinen und die Kunst flüchtet und damit etwas verdrängt, an das er sich nicht erinnern will.

„Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen“ (Folio) lässt die Argonautensage aus der griechischen Mythologie in einem neuen Licht erscheinen. Auf dem ersten Boot, das die Götter schufen, brechen Jason und seine Gefährten auf, um Helden zu werden. Doch auf der Reise begegnet Jason erst einmal die Liebe in Form von Medea, die ihm mit ihren Zauberkünsten hilft. Andrea Marcolongo erzählt von der Liebe, dem Mut, ins Ungewisse aufzubrechen, und der Entschlossenheit, alle Hindernisse zu überwinden, um das eigene Leben zu leben.

Iris und Myles leben gemeinsam mit ihrem elfjährigen Sohn in einer buddhistischen Gemeinde in der kleinen Siedlung New Pond, in den Wäldern von Maine. Maine ist gleichzeitig die Heimat von Autor Oisín Curran, der in „Wenn ich jetzt nicht weine“ (Luftschacht) von einem Jungen erzählt, der nach einem Sturz regelmäßig in tranceartige Zustände verfällt. In dieser Trance ist er ein Mädchen und gleichzeitig die Heldin einer abenteuerlichen Reise. Die Flucht aus der Realität hilft dem Jungen beim Verstehen einer vom Krieg gezeichneten Welt, in der seine Mutter schwer erkrankt und sein Vater einem autoritären Führer folgt.

NEUS AUS ÖSTERREICH: Provinz- und Großstadtleben
Im Roman „Das Palais muss brennen“ (Kiepenheuer & Witsch), dem literarischen Debüt von Mercedes Spannagel, geht es um Luise, die Tochter der rechtskonservativen Bundespräsidentin Österreichs, die Widerstand gegen ihre Mutter und deren Politik leistet. Zum Beispiel, indem sie sich einen Mops namens Marx zulegt. Mit bitterbösem Sprachwitz erzählt Spannagel von einer Rebellin, die eine korrupte, rechte Elite zu Fall bringen will.

Im Mittelpunkt des neuen Romans „Arigato“ (Otto Müller Verlag) von Ursula Wiegele steht Vera, deren Familie nach dem großen Erdbeben in Friaul 1976 das Dach über dem Kopf verliert. Sie wird zu ihrer Tante Rosa und Onkel Hans nach Villach geschickt. Doch Onkel Hans ist wenig begeistert von der „halben Italienerin“ und lässt keine Gelegenheit­ für abschätzige Kommentare aus. Als Vera einem­ Familiengeheimnis auf die Spur kommt, gerät ihre Welt abermals ins Wanken.

In ein oberösterreichisches Provinzkaff hat es den Mozarteum-Abgänger Siegi Heehrmann im Roman „Die Forelle“ (Wallstein) verschlagen. Dort arbeitet er als Musikschullehrer für Saitenins­trumente, verbringt aber die meiste Zeit mit der Kunst, den perfekten Köder herzustellen und das Fliegenfischen zu erlernen. Leander Fischer schreibt in einem Stil, der fesselt, und verbindet in seinem Debütroman Themen wie Kunst, Natur und Gesellschaft.

Sandra Gugić erzählt in ihrem neuen Roman „Zorn und Stille“ (Hoffmann und Campe) von der Fotografin Billy Bana. Aufgewachsen als Gastarbeiterkind in Wien, hat diese ihre jugoslawische Herkunft quasi hinter sich gelassen. Bis ihr Vater stirbt und Billy sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Bruder und ihrer eigenen Identität macht. Eine Geschichte über eine Familie, geprägt vom Trauma der Jugoslawienkriege.

Um Menschen mit Migrationshintergrund geht es auch im Sachbuch „Integration erwünscht?“ (Czernin). Sieglinde Rosenberger und Oliver Gruber beantworten die Frage, was und wie viel die österreichische Politik zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund leistet. Die Integrationspolitik im Lande ist umstritten. Die Autorin und der Autor ordnen und interpretieren im Buch die Etappen, Akteure und Interessen der Integrationspolitik der letzten Jahre.

BÜCHER VON UND ÜBER STARKE FRAUEN
„Die Marschallin“ (C.H. Beck) porträtiert das Leben der einflussreichen Zora, der Großmutter der Autorin Zora del Buono. Um ihre Geschichte und die Folgen des Raubmords, in den sie verwickelt war, geht es in diesem Familienroman. Am Ende des Ersten Weltkriegs lernt die Slowenin Zora ihren späteren Ehemann, den Radiologieprofessor Pietro Del Buono, kennen und folgt ihm nach Süditalien. Dort leistet die überzeugte Kommunistin Widerstand gegen den Faschismus Mussolinis. Ein Buch über das Leben einer ideologischen, temperamentvollen und beeindruckenden Frau.

Um eine solche Frau geht es auch in „Rolien & Ralien“ (Wagenbach) von Josepha Mendels. Der Roman erschien bereits 1947 in den Niederlanden und galt damals als „gefährliches Buch“. Auch Rolien, die elfjährige Protagonistin, schreibt Texte, also Schulaufsätze, die als gefährlich gelten. Später möchte Rolien ein Mann werden, der Rudolf heißt und in Paris lebt. Nach Paris zieht sie tatsächlich, ein Mann wird sie nicht, dafür aber Gouvernante­, Nacktmodell, Hilfsfotografin­, Buchhandelsassistentin­, Hobbyphilosophin und Vielleserin.

Jaqueline Scheiber kennt man besser unter dem Namen „Minusgold“, unter dem sie auf Instagram kurze literarische Erzählungen über ihren Alltag und gesellschaftskritische Themen veröffentlicht. Sie schreibt über den Tod ihres Partners, ihre psychische Erkrankung und teilt Fotos von ihren Dehnungsstreifen mit Tausenden Menschen. In ihrem Buch „Offenheit“ (Kremayr & Scheriau), das Teil der neuen Bücherreihe „Übermorgen“ ist, reflektiert die Autorin über den Balanceakt zwischen Öffentlichkeit und Privatem.

In ihrem Debütroman erzählt die Kabarettistin Lisa Eckart mit viel Humor von Oma Helga. Diese ist 1945 gerade in der Pubertät und wetteifert mit ihrer Schwester Inge um die Gunst der Besatzer. Zehn Jahre später soll sie einen Dorfwirt heiraten, ist davon aber wenig begeistert. Sie wird zur Organisatorin von Busreisen und schmuggelt Fleisch über die Grenze nach Ungarn, bevor sie mit über achtzig mit ihrer Enkelin in See sticht. „Omama“ (Zsolnay) ist eine wilde und sehr komische Reise durch die Nachkriegsgeschichte.

Pilar Quintana ist eine der meistgelesenen Autorinnen ihrer Heimat Kolumbien, aber auch in ganz Lateinamerika bekannt. Ihr Roman „Hündin­“ (aufbau) dreht sich um Damaris, eine schwarze Frau in ihren Vierzigern. Seit vielen Jahren lebt sie gemeinsam mit Rogelio in einem kleinen Dorf, in dem Reiche und Arme, Weiße und Schwarze getrennt voneinander leben. Das Paar wünscht sich seit Jahren ein gemeinsames Kind, findet aber stattdessen einen Hundewelpen.

ZWISCHEN DEN KULTUREN: Ein Perspektivenwechsel
Zwischen Arabischem Frühling und europäischem Lifestyle ist dieser Roman von Manfred Rumpl angesiedelt. In „Schwarzer Jasmin“ (Picus) treffen die unterschiedlichsten Figuren aufeinander. Es geht um den Journalisten Jakob und die Sozialarbeiterin Julia, deren Beziehung am Scheideweg steht. Um den tunesischen Flüchtling Eymen, der zwischen den Verlockungen des westlichen Lebens und seiner religiösen Überzeugung hin- und hergerissen ist. Und um den Polizisten Frank, der sich gegen eine opportunistische Polizistin durchsetzen muss.

Queenie ist gut darin, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Sei es mit ihrer chaotischen jamaikanischen Familie, der Zeitungsredaktion, in der sie arbeitet, oder mit ihrem braven weißen Langzeitfreund. Als die beiden sich trennen, stürzt sie sich ins Datingleben und findet statt der wahren Liebe etwas viel Aufregenderes. „Queenie“ (Blumenbar) ist der erste Roman von der in South London lebenden Schriftstellerin Candice Carty-Williams und war in England ein großer Bestseller.

Die Autorin Isabella Hammad kommt ebenfalls aus London und erzählt in ihrem Debütroman „Der Fremde aus Paris“ (Luchterhand) eine Geschichte, die an das Leben ihres Urgroßvaters während des Ersten Weltkriegs angelehnt ist. Für den junge Palästinenser Midhat beginnt eine neue Existenz, als er in Montpellier von Bord eines Dampfers aus Alexandria geht. Er studiert Medizin, genießt die französische Kultur und verliebt sich. Doch in den vom Krieg aufgeschreckten bürgerlichen Salons von Paris bleibt er ein Fremder.

Johny Pitts macht sich in seinem Buch „Afropäisch­“ (Suhrkamp) auf die Suche nach der schwarzen Identität Europas. Denn für viele ist schwarz und Europäer sein noch immer ein Widerspruch. Dafür bereist er die Metropolen des Kontinents und verknüpft dabei Reportage mit literarischem Essay. Das Buch zeigt, wie sehr die europäische Gesellschaft von „afropäischen“ Schriftstellern, Musikern, Aktivisten und einfachen Arbeitern­ geprägt ist.

„Die Sommer“ (Hanser) ist der erste Roman von Ronya Othmann und handelt von Leyla, der Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden. Ihre Sommer verbringt sie in einem Dorf in Nordsyrien, in Grenznähe zur Türkei. Sie weiß, wo die Koffer versteckt sind, falls die Bewohner wieder fliehen müssen, und kennt die Umrisse Kurdistans. Sie sieht die Fotos ihrer unbekümmerten deutschen Freunde, aber auch die Ermordung von Jesiden und das vernichtete Aleppo. Und sie entscheidet sich, sich der Auslöschung ­ihrer eigenen Heimat zu widersetzen.

SACHBÜCHER: Corona, Klima und Ungarn
In „Wuhan Diary“ (Hoffmann und Campe) berichtet die chinesische Schriftstellerin Fang Fang von der Abriegelung Wuhans. Zwei Tage nach der kompletten Isolation von der Außenwelt beginnt die Autorin damit, online Tagebuch zu schreiben. Gefangen in ihrer Wohnung, gibt sie ihrer Wut über die Untätigkeit und Vertuschungsmanöver der Behörden Luft, schreibt aber auch vom speziellen Wuhaner Humor und den Helden und Heldinnen der Krise: dem Personal in den Krankenhäusern Wuhans.

Während der Coronakrise rückte die Klima­krise in vielen Bereichen in den Hintergrund. Laut Andreas Malm ist es aber höchste Zeit zu handeln. Wenn es sein muss, mit Gewalt. „Wie man eine Pipeline in die Luft jagt“ (Matthes & Seitz) fordert den Stillstand der Förderung fossiler Brennstoffe mit allen Mitteln. Anhand von Beispielen aus der Vergangenheit – der Kampf für das Frauenwahlrecht und der gegen die Apartheid – zeigt der Autor, dass erfolgreiche Bewegungen immer Grenzen überschritten haben, und beschreibt, wie die Klimaproteste in einer Welt aussehen sollten, die längst in Flammen steht.

Eine Folge des Klimawandels ist der Verlust an Vielfalt im Tier- und Pflanzenreich. „Der Zustand der Welt“ (Terra Mater) ist eine Bestandsaufnahme vom Status quo der Ökosysteme und ihrer Lebewesen auf unserer Erde. Der Biologe und Wissenschaftsjournalist Kurt De Swaaf hält fest, was wir bereits verloren haben und was kurz davorsteht, verloren zu gehen. Er stellt fest, dass der Erde die Zeit davonläuft, und liefert konkrete Beispiele, wie sie noch zu retten wäre.

Auch wenn Biodiversität in aller Munde ist, weiß kaum noch jemand, wie man Pflanzen überhaupt benennt. Marc Jeanson leitet das größte Herbarium der Welt in Paris. In „Das Gedächtnis der Welt“ (Aufbau) nehmen der junge Botaniker und die Journalistin Charlotte Fauve uns mit auf die Expedition jener Gelehrten, deren Darstellungen das Herbarium füllen. Wir begleiten Jeanson bei seiner Suche nach unbekannten Pflanzen, die benannt und vor dem Vergessen bewahrt werden wollen.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán sorgte in den letzten Monaten mit seiner demokratiefeindlichen Politik weltweit für Schlagzeilen. Autoritäre Strukturen prägen Ungarn aber nicht erst seit gestern. Dem Standardwerk „Die Ungarn“ (ecowin) sind in dieser neuen Ausgabe zwei wichtige Kapitel über die letzten dreißig Jahre hinzugefügt worden. Paul Lendvai porträtiert sein Heimatland mit all seinen Kriegen, Krisen, Helden und erzählt die tausendjährige Geschichte Ungarns.

(c) Anna Hamilton/unsplash
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