Anzeiger 6/2022 – Widerspruch auf italienisch

In ganz Europa stöhnt die Buchbranche unter den Folgen der Pandemie. In ganz Europa?  Nein, Italien geht deutlich gestärkt daraus hervor. Was haben die Italiener:innen richtig gemacht?

 Text: Linn Ritsch

Im zweiten Jahr der Coronapandemie geschah etwas Ungewöhnliches. Europas Verlage, Buchhandlungen und Buchmarktexpertise schauten nach Italien. Nicht mitleidig oder empört, sondern beeindruckt. Vielleicht auch ein wenig neidisch. In Italien ist man das außerhalb der Fußballszene nicht gewohnt. Daher liegt seine Buchbranche im Freudentaumel. „Plötzlich fanden wir uns in einer unerwarteten Situation wieder“, sagt Ricardo Franco Levi, Präsident der Italienischen Verlegervereinigung AIE. „Alle lobten uns als nachahmenswertes Modell.“ Der Grund: 2021 verzeichnet Italiens Buchmarkt ein Umsatzplus von über 18  Prozent gegenüber 2020. Gegenüber dem Vor-Corona-Jahr 2019, und hier liegt der Hauptgrund für die Freude in Italien und das Erstaunen im Ausland, sind es plus 16  Prozent.

Offene Buchgeschäfte? Buch-händler:innen protestieren

Von nichts kommt nichts: Hinter dem berauschenden Erfolg stecken große Anstrengungen und vor allem politische Überzeugungskraft. „Einer der Gründe für die positive Entwicklung ist unser gemeinsames Auftreten. Es ist der gesamten Buchbranche gelungen, geschlossen zu bleiben und gegenüber den öffentlichen Institutionen mit einer geeinten Stimme zu sprechen“, erklärt Levi. Dass dies gelang, sei vor allem einer sehr gut strukturierten Forschungsabteilung der AIE zu verdanken, die ein eindeutiges und detailliertes Bild über die Stärken und Schwächen des Buchmarktes ermittelt habe.
Doch damit allein hätte man noch nichts erreicht. Entscheidend war, dass die Politik zuhörte. „Wir haben uns in dieser schwierigen Zeit an den Staat gewandt, der bereit war, uns zuzuhören“, sagt Levi und bezieht sich damit auf eine bemerkenswert effektive Partnerschaft, die er mit dem Kulturminister Dario Franceschini eingegangen ist. Das Ergebnis war eine aufmerksame und verantwortungsbewusste wirtschaftliche Unterstützung aus Rom für die Kunst in Italien.
Die wichtigste politische Entscheidung war zunächst symbolisch: Im April 2020 wurde das Buch zum „essenziellen Gut“ erklärt. (Frankreich hat sich diese Strategie klugerweise von Italien abgeschaut – siehe Buchmarkt Frankreich im anzeiger 3/2022.) Buchhandlungen durften demgemäß gemeinsam mit Supermärkten, Apotheken und Banken auch während der Lockdownphasen offenbleiben.
Symbolisch war diese Ankündigung in zweifacher Hinsicht: Erstens wurde damit die Relevanz des Buches als Kulturgut eindrucksvoll unterstrichen. Zweitens fand sie zunächst größtenteils auf dem Papier statt: In der allgemeinen Furcht vor der Pandemie wurde die Möglichkeit der Öffnung von vielen Buchhandlungen nicht gleich in Anspruch genommen.
Die Maßnahme wurde zum Teil scharf kritisiert – ausgerechnet von Buchhändler:innen. 247 Buchhandlungsbesitzende in ganz Italien unterzeichneten im Frühjahr 2020 eine Petition, die von LED, einer Onlineplattform für Buchhandel und Verlage, gesammelt wurde, um die Wiedereröffnung ihrer Läden zu verhindern. In einem erklärenden offenen Brief an den Premierminister Giuseppe Conte hieß es: „Als Buchhändler freuen wir uns über diese plötzliche Aufmerksamkeit für unsere Arbeit (…) aber wir haben nicht die Absicht, uns zu exponieren, nur um eine ‚kulturelle Erholung der Seelen‘ vorzutäuschen, die es nur geben kann, wenn die Sicherheit aller gewährleistet ist.“
Längerfristig erwies sich diese Strategie allerdings als großer Erfolg. Paolo Ambrosini, Präsident des italienischen Buchhändlerverbands Ali Confcommercio, blickt zufrieden auf die letzten beiden Jahre zurück: „Der Buchhandel hat es in diesen zwei Jahren der Pandemie geschafft, der schweren Krise zu trotzen und sich als grundlegend für die Stabilität des Buches zu erweisen. Unsere Unternehmen verkaufen sowohl im Laden als auch online.“

Italiens Riesen mit
politischen Verbindungen:
Mondadori und Co.

Die Unternehmen, die Paolo Ambrosini meint, sind im Wesentlichen Großkonzerne: Mondadori, Italiens größter Verlagskonzern, gefolgt von GeMS (Gruppo editoriale Mauri Spagnol), Giunti und La Feltrinelli. Gemeinsam machen sie fast die Hälfte (49 Prozent) des italienischen Buchmarktes aus. Eine solche Konzentration des Kapitals schlägt immer wieder politische Wellen. Die bei Weitem größte Verlagsgruppe, Mondadori, steht in unmittelbarer Verbindung zur italienischen Politik: Sie gehört der Familie des Ex-Premierministers Silvio Berlusconi. „Berlusconi hatte keine Berührungsängste, als er sich im Zuge seiner Konzernisierung auch Buchverlage einverleibte“, sagt Ludwig Paulmichl, Leiter des in Bozen und Wien ansässigen Folio Verlags. „Mondadori hat alte renommierte Verlage gekauft. Auch solche, die im politischen Spektrum weit von Berlusconis Ideal entfernt waren, etwa den aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangenen Einaudi-Verlag.“ Zu drei der vier Verlagsriesen gehört jeweils eine eigene Buchhandelskette.Die großen Ketten behalten die Titel ihrer eigenen Verlage sichtbarer und länger im Sortiment. Sichtbarkeit zu erlangen ist daher für kleinere, unabhängige Verlage teuer. Trotzdem gibt es in Italien eine bemerkenswert große Zahl aktiver kleiner Verlage. Durch diese und den Zuzug ausländischer Verlage bleibe der Markt laut AIE „dynamisch und kompetitiv“. „In Italien gibt es sehr, sehr viele engagierte Kleinverlage, die mit jedem Mittel, manchmal auch der Selbstausbeutung, Bücher auf den Markt bringen“, sagt Viktoria von Schirach, Literaturscout in Italien für einige Verlage der deutschen Penguin Random House Gruppe. „In Deutschland ist das Publizieren eines Buches in den allermeisten Fällen ein wirtschaftliches Unternehmen. In Italien ist das ganz anders.“ Tatsächlich findet in Rom jährlich Europas größte Messen für kleine und mittlere Verlage statt. Sie nennt sich „Più libri più liberi“, was mit „Je mehr Bücher, desto mehr Freiheit“ übersetzt werden kann. Wenn das stimmt, muss Italien ein sehr freies Land sein: 2020 kamen über 69.000 neue Titel auf den Markt, etwa gleich viele wie im deutlich größeren Deutschland. 2021 waren es mehr als 85.000 – eine Steigerung von 16 Prozent gegenüber dem Vor-Corona-Jahr 2019.

Wenige lesen viel: ­darunter auch theoretische Werke

Wenn in der Buchbranche von dynamischen Märkten und schwindelerregendem Wachstum die Rede ist, könnte man leicht annehmen, das ließe auf eine ebenso dynamische und rasch wachsende Leserschaft schließen. Das stimmt auch – zum Teil. Doch zu einem ziemlich kleinen. Kaum zwanzig Prozent beträgt der Anteil der italienischen Leser:innen, die über sechzig Prozent der Buchkäufe tätigen. Diese wenigen Lesenden sind für die positiven Zahlen verantwortlich, die Italiens Buchmarkt schreibt. Dass sich die in Italien gekauften und gelesenen Bücher in einer so kleinen Leserschaft konzentrieren, ist eine der großen Schwächen des Buchmarktes.
Vor allem regionale Unterschiede sind kaum auszugleichen. Das anhaltende Nord-Süd-Lesegefälle wird bei der AIE resigniert zur Kenntnis genommen: „Im Süden ist alles ein bisschen schwieriger“, bemerkt Levi. Die Anzahl der Leser:innen und verkauften Titel spiegle einfach die Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen wider: In einer kalabrischen Stadt liegt das Durchschnittseinkommen bei etwas mehr als einem Drittel dessen, was man in Bologna durchschnittlich verdient. Wenn das Geld knapp wird, gibt man es nicht mehr für Bücher aus, essenzielles Gut hin oder her.
Jene, die es sich leisten können, Bücher zu kaufen, bevorzugen immer noch den stationären Handel. Obwohl der Anteil der Onlinekäufe auch in Italien zunimmt, wird der größere Teil des Umsatzes immer noch in stationären Buchhandlungen gemacht. Deren Sortiment besteht nicht wie im deutschsprachigen Raum hauptsächlich aus Unterhaltungsliteratur: „Italienische Buchhandlungen haben viel mehr Essayistik und Theorie im Angebot“, erklärt Paulmichl. „Theoretische Texte haben nach wie vor einen hohen Stellenwert. Die Trennung zwischen Publikumsverlagen und Universitätsverlagen, die es in Deutschland und in Österreich gibt, ist in Italien nicht üblich.“
Buchhandlungen haben im (sehr katholischen) Italien oft auch am Sonntag geöffnet: Viktoria von Schirach hält das für einen klugen Schachzug: „Wann haben Menschen denn Zeit, in eine Buchhandlung zu gehen und gemütlich zu schmökern? Sicher nicht während der Arbeitszeit.“
Ob sonntags oder unter der Woche, zum Kaufen und Lesen von Büchern sind neben Menschen im Süden Italiens vor allem Teenager:innen schwer zu bewegen. Bei der AIE ist man sich bewusst, dass Handlungsbedarf besteht: Jugendliche zum Lesen zu motivieren sei eine der aktuellen Prioritäten.

Kinderliteratur und Comics: die Zukunft der Branche 

Begonnen wurde damit bereits während der Pandemie: Ein Blick auf die beliebtesten Buchgattungen in Italien zeigt, dass Jugendliche im Jahr 2021 einen erheblichen Beitrag zu den Verkaufszahlen der Branche leisteten: Die Käufe von Comics haben sich zwischen 2020 und 2021 mehr als verdoppelt. Wieder liegen die Gründe dafür in einer erfolgreichen politischen Initiative (die ebenfalls von Frankreich kopiert wurde). Der Aufschwung wurde durch die „18app“-Initiative angeheizt: eine Regierungskampagne, die es unter 18-Jährigen ermöglichte, bis zu 500 Euro für kulturelle Güter und Erlebnisse auszu­geben. „Wir haben in diesen schwierigen Zeiten darum gebeten, Menschen beim Kauf von Büchern zu unterstützen, und die Hilfe von der Politik erhalten“, sagt Levi. Da in den langen Lockdownphasen so gut wie alle kulturellen Einrichtungen geschlossen blieben, gaben die Jugendlichen das Geld fast ausschließlich für Bücher aus, und zu einem Großteil waren das eben Comics. Das Resultat: 2021 wurden um 134 Prozent mehr Comicbücher verkauft als im Vorjahr. „Die Gruppe junger Leser:innen, die an Comics interessiert sind, ist eine neue Kraft im Buchmarkt“, so Levi. „Jetzt gilt es   sicherzustellen, dass wir sie nicht wieder verlieren.“ Eine weitere Initiative, auf die Italien stolz ist, heißt „Io leggo perché“ („Ich lese, weil“). Die größte nationale Initiative zur Leseförderung wendet sich direkt an die Bevölkerung: Bücher sollen gekauft und an Schulbibliotheken gespendet werden. Es funktioniert besser als geplant: Insgesamt wurden bisher fast zwei Millionen Bücher gespendet (ein Teil davon wird auch direkt von den Verlagen bereitgestellt).
Über Kinderliteratur spricht man in Italien überhaupt gern, sie ist seit Jahren der Stolz der Buchindustrie: Die jährlich verkauften Kinderbücher machen etwa 18 Prozent des Gesamtmarktes aus. Von den ins Ausland verkauften Übersetzungsrechten sind fast ein Drittel Kinderbücher.
Italiens Erfolg in dieser Sparte ist nicht allein den vielen guten Autor:innen und Illustrator:innen geschuldet. Ein wichtiger Faktor ist auch die Messe in Bologna. Sie ist Europas wichtigste Messe für Kinder- und Jugendliteratur und seit Jahren äußerst erfolgreich: Gäste aus dem Ausland schwärmen von der angenehmen und inspirierenden Atmosphäre, italienische Kinderbuchverlage profitieren von der unmittelbaren Berührung mit der internationalen Kinderliteraturszene.

Italien auf deutsch heißt Pizza und Donna Leon

Nicht nur im Hinblick auf Kinder- und Jugendliteratur ist der internationale Markt für Italien wichtig. In den letzten zwanzig Jahren stieg die Zahl der Verträge mit ausländischen Verlagen von 1.800 auf über 8.000 pro Jahr: Ein Wachstum, das sich während der Pandemie fortsetzte. Es ist zu einem großen Teil auf ein Programm zurückzuführen, das ausländischen Verleger:innen Zuschüsse für die Übersetzung italienischer Titel gewährt. Europa ist mit über zwei Dritteln aller ins Ausland verkauften Titel bei Weitem der wichtigste Markt. Ein weiterer Grund für eine positive Bilanz also. Ricardo Levi ist zufrieden: „Früher war der italienische Markt in hohem Maße von Importen abhängig. Wir haben viel mehr ausländische Rechte gekauft als exportiert.“ Heute ist das anders: Die Import- und die Exportkurve berühren einander fast. Von der anderen Seite aus betrachtet stellt sich der Transfer italienischer Literatur ernüchternder dar. Jedenfalls aus der Perspektive deutschsprachiger Buchkäufer:innen. Wenn man Menschen in Deutschland nach ihren liebsten italienischen Schriftsteller:innen fragt, erhält man oft eine überraschende Antwort: Donna Leon. Die Krimiautorin ist US-Amerikanerin, der von ihr erdachte Detektiv allerdings Venezianer. Italien-Krimis sind hierzu­lande nach wie vor sehr beliebt – vor allem dann, wenn sie von Autor:innen aus dem deutschsprachigen Raum geschrieben werden. Viktoria von Schirach erklärt deren Erfolg mit einer gewissen Erwartungshaltung an Produkte einer Kultur, die wir zu kennen glauben. „Bei uns haben Leser:innen ganz bestimmte Erwartungen an eine Geschichte aus Italien. Das Italien-Klischee, wie wir es kennen, soll transportiert werden.“
Dabei besteht durchaus ein Naheverhältnis zwischen Italien und dem deutschsprachigen Raum: In einem Teil Italiens  spricht man in einem Teil Italiens bekanntlich Deutsch. „Der Kulturtransfer liegt uns als Wiener und Südtiroler Verlag natürlich sehr am Herzen, wir übersetzen italienische und südosteuropäische Autor:innen ins Deutsche“, sagt Paulmichl, Leiter des Folio Verlags. Ganz im Norden Italiens gelingt der Austausch zwischen der italienischen und der deutschsprachigen Literaturlandschaft gut, doch was für Südtirol gilt, ist im Rest Italiens noch lange nicht die Wahrheit. „Deutschsprachige Literatur ist in Italien bislang nicht besonders stark vertreten“, erklärt Paulmichl.

Als sechstgrößter Buchmarkt optimistisch in die Zukunft

Italien, so könnte man meinen, ist das Land der Widersprüche: Die Verlagsszene wird von Großkonzernen regiert, aber in wenigen anderen Ländern sind kleine Verlage so zahlreich und aktiv. Die Zahl der Leser:innen sinkt, doch die Zahl der Buchverkäufe steigt. Und um den Umsatz so richtig in die Höhe zu treiben, braucht man eine Pandemie. Womöglich macht die italienische Buchbranche auch einfach genau das, was seit Millionen von Jahren das Überleben der Menschheit garantiert: Gemeinsam agieren und sich rasch an neue Gegebenheiten anpassen. Blinder Optimismus hat jedenfalls nicht überhandgenommen, nicht einmal im Anbetracht eines Umsatzwachstums von 16  Prozent. „Die Zukunft ist nicht ohne Unbekannte“, sagt Levi. „Auf der positiven Seite steht die Bestätigung der öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen. Aber es gibt eine Not in Bezug auf die Preise und die Verfügbarkeit von Papier. Auch das Problem der Piraterie bleibt bestehen.“ Noch gibt es einiges zu tun, aber die letzten Jahre haben gezeigt, was man alles erreichen kann. Italien, das 72-größte Land der Welt, hat heute den weltweit sechstgrößten Buchmarkt: nach den USA, China, Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Und er wächst.

30.6.2022

(c) jorono on pixybay
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